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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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erster Linie aus der Schlüpfrigkeit des Textes und der Handlung zu erklären,
erst in zweiter Linie aus dem Interesse an der Musik. Was die letztere be¬
trifft, so ist sie relativ eine Wendung zum Bessern. An die Stelle der blasirten
Frivolität, der raffinirten Liederlichkeit, hie und da sogar der platten Ge¬
meinheit, welche sich in den Offenbachiaden breit macht, ist hier melodiöse Ge¬
müthlichkeit und harmlosere Komik getreten. Mit einem Wort: war Offen¬
bach der Musikant des zweiten Kaiserreichs, so ist Lecoq der Musikant der
konservativen Republik. Das Libretto der Mamsell Angot giebt denjenigen
der Offenbach'schen Opern freilich nichts nach; aber wenn bei Offenbach Text
und Musik sich vollkommen deckten, so würde die Lecoq'sche Musik ebensogut
wie zu dem anzüglichen, zu einem viel harmloseren Libretto passen. An Ori¬
ginalität steht Lecoq allerdings bedeutend hinter Offenbach zurück. Der ita¬
lienische und der deutsche Einfluß liegt in jedem Satze auf der Hand; aber
wir sehen doch wenigstens nicht mehr jenes mit schlauester Berechnung und
widerlichem Behagen ausgeführte Attentat auf die Sittlichkeit der Kunst. Daß
sich auch in dem Texte dieser komischen Opern demnächst ein ähnlicher
moralischer Umschwung vollziehen werde, ist bei dem in der französischen
Hauptstadt herrschenden Geiste schwerlich zu erwarten.

Um übrigens auf das Weihnachtsfest zurückzukommen, so sollte es nicht
ungestört zu Ende gehen. Am Freitag Nachmittag durcheilte die Stadt die
Kunde von einer Mordthat, wie sie frecher in Berlin noch nicht verübt wor¬
den ist. In einer der belebtesten Straßen und noch dazu in einem der be¬
lebtesten Häuser derselben war ein Cigarrenhändler tödtlich verwundet und
ausgeraubt worden, ohne daß es gelang, der Thäter habhaft zu werden.
Mit vollem Recht wird die Gesellschaft bei solcher Kunde mit Grauen er¬
füllt. Man fragt sich, wo und wann man denn überhaupt noch sicher ist.
Die vorvorige Woche hatte allein drei Raubmorde zu verzeichnen, mit stufen¬
mäßig steigender Frechheit, bis die That vom 26. Dezember Allem die Krone
aufsetzte. Rathlos steht man vor der Frage, wie dieser unerhörten Gefähr¬
dung der öffentlichen Sicherheit abzuwehren sei; die Polizei ist machtlos, wo
es sich um solche Vorgänge im Innern der Häuser und Familien handelt, wo
die Thäter nicht leicht erkennbare Vagabunden, sondern äußerlich makellose
Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind. Was bleibt noch sicher, wenn
der bis dahin unverdächtige Arbeiter den friedlichen, ihm gänzlich fremden
Bürger um seiner mühsamen Ersparniß willen erschlägt? Und leider sind
gerade solche Fälle in jüngster Zeit mehrfach vorgekommen. Die nach jedem
großen Kriege gemachte Erfahrung, daß die Achtung vor dem Leben Anderer
tief zu sinken Pflegt, ist offenbar auch uns nicht erspart geblieben. Zum
mindesten hat die Rohheit aus dem Kriegsleben eine furchtbare Nahrung
gezogen. Dazu kommt die durch das Steigen der Arbeitslöhne nur immer


erster Linie aus der Schlüpfrigkeit des Textes und der Handlung zu erklären,
erst in zweiter Linie aus dem Interesse an der Musik. Was die letztere be¬
trifft, so ist sie relativ eine Wendung zum Bessern. An die Stelle der blasirten
Frivolität, der raffinirten Liederlichkeit, hie und da sogar der platten Ge¬
meinheit, welche sich in den Offenbachiaden breit macht, ist hier melodiöse Ge¬
müthlichkeit und harmlosere Komik getreten. Mit einem Wort: war Offen¬
bach der Musikant des zweiten Kaiserreichs, so ist Lecoq der Musikant der
konservativen Republik. Das Libretto der Mamsell Angot giebt denjenigen
der Offenbach'schen Opern freilich nichts nach; aber wenn bei Offenbach Text
und Musik sich vollkommen deckten, so würde die Lecoq'sche Musik ebensogut
wie zu dem anzüglichen, zu einem viel harmloseren Libretto passen. An Ori¬
ginalität steht Lecoq allerdings bedeutend hinter Offenbach zurück. Der ita¬
lienische und der deutsche Einfluß liegt in jedem Satze auf der Hand; aber
wir sehen doch wenigstens nicht mehr jenes mit schlauester Berechnung und
widerlichem Behagen ausgeführte Attentat auf die Sittlichkeit der Kunst. Daß
sich auch in dem Texte dieser komischen Opern demnächst ein ähnlicher
moralischer Umschwung vollziehen werde, ist bei dem in der französischen
Hauptstadt herrschenden Geiste schwerlich zu erwarten.

Um übrigens auf das Weihnachtsfest zurückzukommen, so sollte es nicht
ungestört zu Ende gehen. Am Freitag Nachmittag durcheilte die Stadt die
Kunde von einer Mordthat, wie sie frecher in Berlin noch nicht verübt wor¬
den ist. In einer der belebtesten Straßen und noch dazu in einem der be¬
lebtesten Häuser derselben war ein Cigarrenhändler tödtlich verwundet und
ausgeraubt worden, ohne daß es gelang, der Thäter habhaft zu werden.
Mit vollem Recht wird die Gesellschaft bei solcher Kunde mit Grauen er¬
füllt. Man fragt sich, wo und wann man denn überhaupt noch sicher ist.
Die vorvorige Woche hatte allein drei Raubmorde zu verzeichnen, mit stufen¬
mäßig steigender Frechheit, bis die That vom 26. Dezember Allem die Krone
aufsetzte. Rathlos steht man vor der Frage, wie dieser unerhörten Gefähr¬
dung der öffentlichen Sicherheit abzuwehren sei; die Polizei ist machtlos, wo
es sich um solche Vorgänge im Innern der Häuser und Familien handelt, wo
die Thäter nicht leicht erkennbare Vagabunden, sondern äußerlich makellose
Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind. Was bleibt noch sicher, wenn
der bis dahin unverdächtige Arbeiter den friedlichen, ihm gänzlich fremden
Bürger um seiner mühsamen Ersparniß willen erschlägt? Und leider sind
gerade solche Fälle in jüngster Zeit mehrfach vorgekommen. Die nach jedem
großen Kriege gemachte Erfahrung, daß die Achtung vor dem Leben Anderer
tief zu sinken Pflegt, ist offenbar auch uns nicht erspart geblieben. Zum
mindesten hat die Rohheit aus dem Kriegsleben eine furchtbare Nahrung
gezogen. Dazu kommt die durch das Steigen der Arbeitslöhne nur immer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/32>, abgerufen am 26.08.2024.