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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Das gilt von den schönen Künsten und von der Kriegskunst. -- Es sind
überdies zwei große Grundströmungen der Renaissance, welche bis auf den
heutigen Tag im Flusse des modernen Kunstlebens erkennbar blieben und
welche die Aesthetiker als die römische und die griechische Renaissance bezeichnen.
Beide wechseln einander ab, beide treten mit größerem oder geringerem Ver¬
ständniß der Antike auf, ahmen mit mehr oder weniger Treue römische oder
hellenische Formen nach und verschmelzen sie mit denjenigen Elementen, welche
Tagesbedürfniß und Tagesstimmung fordern. Auf dem Gebiete der schönen
Künste ist dieser Entwickelungsgang bekannt. Er führt von der Früh-
renaissance durch die Hochrenaissance zum Barockstyl, von diesem durch das
Rococo und den Zopfsthl zu dem mißverstandenen Griechenthum des Empire
und dem echterer Hellenismus der Kunst Thorwaldsen's und Schinkel's. bis
wir uns endlich heutzutage in einem Eklecticismus wiederfinden, der unter den
Formen aller vorangegangenen Zeiten nach Willkür wählt. Vergebens waren
bisher alle Versuche, einen neuen Styl zu produziren; denn sie bestanden meist
darin, daß man neuen Wein in alte Schläuche füllte. Wer gegenwärtig
wirklich einen neuen Styl erwartet, der sieht dem Entstehen desselben nicht
mehr aus der anarchischen Vermischung beliebiger alter Stylelemente, sondern
aus dem organischen Gebrauche der neuen Materialien entgegen, so
namentlich in der Baukunst aus der rationellen Anwendung des Eisens,
welche ja alle bisherigen tektonischen Voraussetzungen modifizirt.

Die Entwickelung der taktischen Formen der Kriegskunst in der
neueren Geschichte bietet nun ein Bild, welches sich aus ganz denselben Grund¬
momenten und Gegensätzen gestaltet und zu fast gleichen Resultaten in der
Gegenwart führt wie jener historische Gang der schönen Kunst.

Die Rivalität zwischen griechischer und römischer Renaissance tritt auch
in der Kriegskunst und zwar schon zu Machiavelli's Tagen aus. Dasjenige
Kriegsvolk, welches damals aus der Höhe militärischer Kunstübung stand und
auf lange hinaus vorbildlich ward für ganz Europa, das Volk der Schweizer,
focht in den Formen der Phalanx. Diese Phalanx war jedoch ursprünglich
keineswegs Nachahmung des griechischen Vorbildes, sondern anfangs lediglich
das Resultat der rohen Massirung des mittelalterlichen Spieß-Fußvolks. Jetzt
aber bemächtigte sich die archäologische Kritik dieser Erscheinung und erkannte
in jenen imposanten Gewalthaufen der Eidgenossen, in jenen hellen Haufen
der deutschen Landsknechte, in jenen stolzen spanischen Tereios, die so oft den
Sieg an ihre Fahnen fesselten, eine Kunstgestalt, die durchaus der griechischen
Phalanx entsprach, und nun wurde zwischen den theoretischen Tendenzen der
Kriegsgelehrten und der überkommenen Form ein Compromiß geschlossen,
genau so, wie das auch auf dem Gebiete der schönen Künste zwischen den
mittelalterlichen Formen und denen der Antike geschah. Doch schon beim


Greiijboten I, 1874. 38

Das gilt von den schönen Künsten und von der Kriegskunst. — Es sind
überdies zwei große Grundströmungen der Renaissance, welche bis auf den
heutigen Tag im Flusse des modernen Kunstlebens erkennbar blieben und
welche die Aesthetiker als die römische und die griechische Renaissance bezeichnen.
Beide wechseln einander ab, beide treten mit größerem oder geringerem Ver¬
ständniß der Antike auf, ahmen mit mehr oder weniger Treue römische oder
hellenische Formen nach und verschmelzen sie mit denjenigen Elementen, welche
Tagesbedürfniß und Tagesstimmung fordern. Auf dem Gebiete der schönen
Künste ist dieser Entwickelungsgang bekannt. Er führt von der Früh-
renaissance durch die Hochrenaissance zum Barockstyl, von diesem durch das
Rococo und den Zopfsthl zu dem mißverstandenen Griechenthum des Empire
und dem echterer Hellenismus der Kunst Thorwaldsen's und Schinkel's. bis
wir uns endlich heutzutage in einem Eklecticismus wiederfinden, der unter den
Formen aller vorangegangenen Zeiten nach Willkür wählt. Vergebens waren
bisher alle Versuche, einen neuen Styl zu produziren; denn sie bestanden meist
darin, daß man neuen Wein in alte Schläuche füllte. Wer gegenwärtig
wirklich einen neuen Styl erwartet, der sieht dem Entstehen desselben nicht
mehr aus der anarchischen Vermischung beliebiger alter Stylelemente, sondern
aus dem organischen Gebrauche der neuen Materialien entgegen, so
namentlich in der Baukunst aus der rationellen Anwendung des Eisens,
welche ja alle bisherigen tektonischen Voraussetzungen modifizirt.

Die Entwickelung der taktischen Formen der Kriegskunst in der
neueren Geschichte bietet nun ein Bild, welches sich aus ganz denselben Grund¬
momenten und Gegensätzen gestaltet und zu fast gleichen Resultaten in der
Gegenwart führt wie jener historische Gang der schönen Kunst.

Die Rivalität zwischen griechischer und römischer Renaissance tritt auch
in der Kriegskunst und zwar schon zu Machiavelli's Tagen aus. Dasjenige
Kriegsvolk, welches damals aus der Höhe militärischer Kunstübung stand und
auf lange hinaus vorbildlich ward für ganz Europa, das Volk der Schweizer,
focht in den Formen der Phalanx. Diese Phalanx war jedoch ursprünglich
keineswegs Nachahmung des griechischen Vorbildes, sondern anfangs lediglich
das Resultat der rohen Massirung des mittelalterlichen Spieß-Fußvolks. Jetzt
aber bemächtigte sich die archäologische Kritik dieser Erscheinung und erkannte
in jenen imposanten Gewalthaufen der Eidgenossen, in jenen hellen Haufen
der deutschen Landsknechte, in jenen stolzen spanischen Tereios, die so oft den
Sieg an ihre Fahnen fesselten, eine Kunstgestalt, die durchaus der griechischen
Phalanx entsprach, und nun wurde zwischen den theoretischen Tendenzen der
Kriegsgelehrten und der überkommenen Form ein Compromiß geschlossen,
genau so, wie das auch auf dem Gebiete der schönen Künste zwischen den
mittelalterlichen Formen und denen der Antike geschah. Doch schon beim


Greiijboten I, 1874. 38
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[0303] Das gilt von den schönen Künsten und von der Kriegskunst. — Es sind überdies zwei große Grundströmungen der Renaissance, welche bis auf den heutigen Tag im Flusse des modernen Kunstlebens erkennbar blieben und welche die Aesthetiker als die römische und die griechische Renaissance bezeichnen. Beide wechseln einander ab, beide treten mit größerem oder geringerem Ver¬ ständniß der Antike auf, ahmen mit mehr oder weniger Treue römische oder hellenische Formen nach und verschmelzen sie mit denjenigen Elementen, welche Tagesbedürfniß und Tagesstimmung fordern. Auf dem Gebiete der schönen Künste ist dieser Entwickelungsgang bekannt. Er führt von der Früh- renaissance durch die Hochrenaissance zum Barockstyl, von diesem durch das Rococo und den Zopfsthl zu dem mißverstandenen Griechenthum des Empire und dem echterer Hellenismus der Kunst Thorwaldsen's und Schinkel's. bis wir uns endlich heutzutage in einem Eklecticismus wiederfinden, der unter den Formen aller vorangegangenen Zeiten nach Willkür wählt. Vergebens waren bisher alle Versuche, einen neuen Styl zu produziren; denn sie bestanden meist darin, daß man neuen Wein in alte Schläuche füllte. Wer gegenwärtig wirklich einen neuen Styl erwartet, der sieht dem Entstehen desselben nicht mehr aus der anarchischen Vermischung beliebiger alter Stylelemente, sondern aus dem organischen Gebrauche der neuen Materialien entgegen, so namentlich in der Baukunst aus der rationellen Anwendung des Eisens, welche ja alle bisherigen tektonischen Voraussetzungen modifizirt. Die Entwickelung der taktischen Formen der Kriegskunst in der neueren Geschichte bietet nun ein Bild, welches sich aus ganz denselben Grund¬ momenten und Gegensätzen gestaltet und zu fast gleichen Resultaten in der Gegenwart führt wie jener historische Gang der schönen Kunst. Die Rivalität zwischen griechischer und römischer Renaissance tritt auch in der Kriegskunst und zwar schon zu Machiavelli's Tagen aus. Dasjenige Kriegsvolk, welches damals aus der Höhe militärischer Kunstübung stand und auf lange hinaus vorbildlich ward für ganz Europa, das Volk der Schweizer, focht in den Formen der Phalanx. Diese Phalanx war jedoch ursprünglich keineswegs Nachahmung des griechischen Vorbildes, sondern anfangs lediglich das Resultat der rohen Massirung des mittelalterlichen Spieß-Fußvolks. Jetzt aber bemächtigte sich die archäologische Kritik dieser Erscheinung und erkannte in jenen imposanten Gewalthaufen der Eidgenossen, in jenen hellen Haufen der deutschen Landsknechte, in jenen stolzen spanischen Tereios, die so oft den Sieg an ihre Fahnen fesselten, eine Kunstgestalt, die durchaus der griechischen Phalanx entsprach, und nun wurde zwischen den theoretischen Tendenzen der Kriegsgelehrten und der überkommenen Form ein Compromiß geschlossen, genau so, wie das auch auf dem Gebiete der schönen Künste zwischen den mittelalterlichen Formen und denen der Antike geschah. Doch schon beim Greiijboten I, 1874. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/303>, abgerufen am 26.08.2024.