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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Es war für die Demokratie kein geringer Gewinn, daß sie durch ihre her¬
vorragendsten Führer in nahe Beziehungen zu den vornehmsten Kreisen trat;
sie wurde tief eingeweiht in das Jntriguenspiel der höchsten Klassen und be¬
nutzte jede sich bietende Gelegenheit, selbst an demselben Theil zu nehmen,
allen ärgerlichen Vorgängen in den Regierungs- und Hofkreisen, über die sie
von ihren legitimistischen Gönnern stets unterrichtet wurde, die ausgebrei-
tetste Oeffentlichkeit zu verschaffen und mit geflissentlicher Uebertreibung dem
Proletariat das Bürgerthum von der verächtlichsten Seite, als eine jedes
Adels der Gesinnung baare, dünkelhafte, von dem Treiben der gemeinsten
Habsucht geleitete Sippschaft darzustellen. Sehr lehrreich ist gerade in dieser
Beziehung Louis Blanc's Geschichte der zehn Jahre. Der ganze Haß des
Verfassers kehrt sich gegen das Bürgerthum und den Bürgerkönig, während
der legitimistische Adel, mit Schonung, ja z. Th. mit unverkennbarer Sym¬
pathie behandelt wird. Es giebt keine Niedrigkeit, keine Gemeinheit, deren
nach Louis Blanc's Darstellung die herrschende Klasse unfähig wäre. An
Stoff fehlte es dem Verfasser für seine Schilderungen nicht; er braucht nur
aus der reichen Scandalchronik zu schöpfen, die den Salons des Faubourg
Se. Germain ihren Ursprung verdankte und die dem radikalen Schriftsteller
von den vornehmen Herrn mit Vergnügen zur Verfügung gestellt wurde.

Je schärfer aber die Gegensätze sich entwickelten, um so unbedingter und
engherziger machten sich die ausschließlichen Tendenzen des Bürgerthums gel¬
tend, das von zwei Seiten angegriffen, sich auf dem Boden einer Politik des
starren Widerstandes verschanzte. Es war der oberste , streng festgehaltene
Grundsatz der herrschenden Klasse, der Demokratie nicht das geringste Zuge-
ständniß zu machen. So kam es, daß das parlamentarische System in seiner
höchsten formalen Ausbildung ganz dem Interesse einer Klasse diente. Es
half der orleanistischen Monarchie sehr wenig, daß sie dem correctesten Parla¬
mentarismus huldigte. Sie galt für die Vertreterin einer bestimmten Klasse,
und das genügte, um sie zum Gegenstande der wüthendsten Angriffe von
Seiten aller anderen Klassen zu machen. Der Kampf des Bürgerthums ge¬
gen Karl X. hatte von einer Frage des Verfassungsrechtes seinen Ausgangs¬
punkt genommen; die Demokratie, welche den Julithron bekämpfte, kümmerte
sich um Verfassungsartikel sehr wenig. Sie kämpfte gegen das gesammte
konstitutionelle System an, weil sie in ihm den Schild und die Waffe einer
ihr feindlichen Klasse sah. Die Zeit der Verfassungskämpfe war vorüber, die
Zeit der socialen Klassenkämpfe hatte begonnen. Der Sturz des Julithrons
war gleichbedeutend mit dem Siege der Demokratie über das Bürgerthum.

In Napoleon fand die Demokratie ihren Organisator und zugleich ihren
Meister. Die einzige Form, in der sie in Frankreich dauernd zu herrschen
vermag, ist die cäsarische Diktatur; aber es ist selbstverständlich, daß sie


Es war für die Demokratie kein geringer Gewinn, daß sie durch ihre her¬
vorragendsten Führer in nahe Beziehungen zu den vornehmsten Kreisen trat;
sie wurde tief eingeweiht in das Jntriguenspiel der höchsten Klassen und be¬
nutzte jede sich bietende Gelegenheit, selbst an demselben Theil zu nehmen,
allen ärgerlichen Vorgängen in den Regierungs- und Hofkreisen, über die sie
von ihren legitimistischen Gönnern stets unterrichtet wurde, die ausgebrei-
tetste Oeffentlichkeit zu verschaffen und mit geflissentlicher Uebertreibung dem
Proletariat das Bürgerthum von der verächtlichsten Seite, als eine jedes
Adels der Gesinnung baare, dünkelhafte, von dem Treiben der gemeinsten
Habsucht geleitete Sippschaft darzustellen. Sehr lehrreich ist gerade in dieser
Beziehung Louis Blanc's Geschichte der zehn Jahre. Der ganze Haß des
Verfassers kehrt sich gegen das Bürgerthum und den Bürgerkönig, während
der legitimistische Adel, mit Schonung, ja z. Th. mit unverkennbarer Sym¬
pathie behandelt wird. Es giebt keine Niedrigkeit, keine Gemeinheit, deren
nach Louis Blanc's Darstellung die herrschende Klasse unfähig wäre. An
Stoff fehlte es dem Verfasser für seine Schilderungen nicht; er braucht nur
aus der reichen Scandalchronik zu schöpfen, die den Salons des Faubourg
Se. Germain ihren Ursprung verdankte und die dem radikalen Schriftsteller
von den vornehmen Herrn mit Vergnügen zur Verfügung gestellt wurde.

Je schärfer aber die Gegensätze sich entwickelten, um so unbedingter und
engherziger machten sich die ausschließlichen Tendenzen des Bürgerthums gel¬
tend, das von zwei Seiten angegriffen, sich auf dem Boden einer Politik des
starren Widerstandes verschanzte. Es war der oberste , streng festgehaltene
Grundsatz der herrschenden Klasse, der Demokratie nicht das geringste Zuge-
ständniß zu machen. So kam es, daß das parlamentarische System in seiner
höchsten formalen Ausbildung ganz dem Interesse einer Klasse diente. Es
half der orleanistischen Monarchie sehr wenig, daß sie dem correctesten Parla¬
mentarismus huldigte. Sie galt für die Vertreterin einer bestimmten Klasse,
und das genügte, um sie zum Gegenstande der wüthendsten Angriffe von
Seiten aller anderen Klassen zu machen. Der Kampf des Bürgerthums ge¬
gen Karl X. hatte von einer Frage des Verfassungsrechtes seinen Ausgangs¬
punkt genommen; die Demokratie, welche den Julithron bekämpfte, kümmerte
sich um Verfassungsartikel sehr wenig. Sie kämpfte gegen das gesammte
konstitutionelle System an, weil sie in ihm den Schild und die Waffe einer
ihr feindlichen Klasse sah. Die Zeit der Verfassungskämpfe war vorüber, die
Zeit der socialen Klassenkämpfe hatte begonnen. Der Sturz des Julithrons
war gleichbedeutend mit dem Siege der Demokratie über das Bürgerthum.

In Napoleon fand die Demokratie ihren Organisator und zugleich ihren
Meister. Die einzige Form, in der sie in Frankreich dauernd zu herrschen
vermag, ist die cäsarische Diktatur; aber es ist selbstverständlich, daß sie


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[0291] Es war für die Demokratie kein geringer Gewinn, daß sie durch ihre her¬ vorragendsten Führer in nahe Beziehungen zu den vornehmsten Kreisen trat; sie wurde tief eingeweiht in das Jntriguenspiel der höchsten Klassen und be¬ nutzte jede sich bietende Gelegenheit, selbst an demselben Theil zu nehmen, allen ärgerlichen Vorgängen in den Regierungs- und Hofkreisen, über die sie von ihren legitimistischen Gönnern stets unterrichtet wurde, die ausgebrei- tetste Oeffentlichkeit zu verschaffen und mit geflissentlicher Uebertreibung dem Proletariat das Bürgerthum von der verächtlichsten Seite, als eine jedes Adels der Gesinnung baare, dünkelhafte, von dem Treiben der gemeinsten Habsucht geleitete Sippschaft darzustellen. Sehr lehrreich ist gerade in dieser Beziehung Louis Blanc's Geschichte der zehn Jahre. Der ganze Haß des Verfassers kehrt sich gegen das Bürgerthum und den Bürgerkönig, während der legitimistische Adel, mit Schonung, ja z. Th. mit unverkennbarer Sym¬ pathie behandelt wird. Es giebt keine Niedrigkeit, keine Gemeinheit, deren nach Louis Blanc's Darstellung die herrschende Klasse unfähig wäre. An Stoff fehlte es dem Verfasser für seine Schilderungen nicht; er braucht nur aus der reichen Scandalchronik zu schöpfen, die den Salons des Faubourg Se. Germain ihren Ursprung verdankte und die dem radikalen Schriftsteller von den vornehmen Herrn mit Vergnügen zur Verfügung gestellt wurde. Je schärfer aber die Gegensätze sich entwickelten, um so unbedingter und engherziger machten sich die ausschließlichen Tendenzen des Bürgerthums gel¬ tend, das von zwei Seiten angegriffen, sich auf dem Boden einer Politik des starren Widerstandes verschanzte. Es war der oberste , streng festgehaltene Grundsatz der herrschenden Klasse, der Demokratie nicht das geringste Zuge- ständniß zu machen. So kam es, daß das parlamentarische System in seiner höchsten formalen Ausbildung ganz dem Interesse einer Klasse diente. Es half der orleanistischen Monarchie sehr wenig, daß sie dem correctesten Parla¬ mentarismus huldigte. Sie galt für die Vertreterin einer bestimmten Klasse, und das genügte, um sie zum Gegenstande der wüthendsten Angriffe von Seiten aller anderen Klassen zu machen. Der Kampf des Bürgerthums ge¬ gen Karl X. hatte von einer Frage des Verfassungsrechtes seinen Ausgangs¬ punkt genommen; die Demokratie, welche den Julithron bekämpfte, kümmerte sich um Verfassungsartikel sehr wenig. Sie kämpfte gegen das gesammte konstitutionelle System an, weil sie in ihm den Schild und die Waffe einer ihr feindlichen Klasse sah. Die Zeit der Verfassungskämpfe war vorüber, die Zeit der socialen Klassenkämpfe hatte begonnen. Der Sturz des Julithrons war gleichbedeutend mit dem Siege der Demokratie über das Bürgerthum. In Napoleon fand die Demokratie ihren Organisator und zugleich ihren Meister. Die einzige Form, in der sie in Frankreich dauernd zu herrschen vermag, ist die cäsarische Diktatur; aber es ist selbstverständlich, daß sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/291>, abgerufen am 26.12.2024.