Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Untersuchung. Die Abend- und Morgen-Aurora werden mit der Spinne
und dem Spinngewebe verglichen; die Abendaurora muß die Morgenaurora
während der Nacht verfertigen. Wenn die Sonne ohne Wolken untergeht,
wenn die glänzende Spinne sich am westlichen Himmel zeigt, so ist das für
den nächsten Morgen ein Anzeichen schönen Wetters. Im Rigveda, also
einem der ältesten Zeugnisse indischen Geistes, haben wir darüber mehrere
interessante Data: die Aurora webt während der Nacht das Gewand für
ihren Gemahl. In der Sage vom Odysseus löst Penelope in der Nacht die
Arbeit des Tages wieder auf; es ist das eine andere Seite desselben Mythus;
Penelope-Aurora löst am Abend das Gewebe auf, um es am Morgen wieder
neu zu fertigen. Der griechische Mythus von Arachne, welche Athene, eifer¬
süchtig auf ihre Geschicklichkeit im Weben, in eine Spinne verwandelt, ist eine
Spielart desselben Mythus von der webenden Aurora. Im Mahabharata,
der berühmten umfangreichen indischen Epopöe, die den Kampf zweier Fürsten¬
familien schildert, weist Gubernatis zwei Weiber nach, welche spinnen und
weben; sie spinnen am Webstuhl des Jahres, "am sausenden Webstuhl der
Zeit", mit schwarzen und weißen Fäden, in denen der Verfasser mit Recht
Tage und Nächte sieht. Wir haben also eine gutartige, segensreiche, wohl¬
thätige und eine bösartige Spinne. Bet Deutschen, Franzosen, Italienern,
Griechen, Jndiern -- überall dasselbe. Und auch die Russen, deren Mythen
der Verfasser tüchtig durchstudirt hat und überall zum Vergleiche heranzieht,
beweisen ihren indogermanischen Charakter durch den Mythus von der
Spinne.

In Afanastew's Sammlung spinnt die Spinne ihr Netz aus, um Fliegen,
Stechmücken und Wespen zu fangen; eine Wespe, die ins Netz geraes, bittet
sie freizulassen, in Anbetracht der vielen Kinder, die sie hinterlassen werde.
Die leichtgläubige Spinne läßt sie auch fliegen; aber sie warnt nun ihre Ge¬
nossen vor dem Netze der Spinne. Letztere ruft nun Heuschrecke, Motte und
Wanze -- nächtliche Thiere! -- zu Hilfe, welche verkündigen müssen, die
Spinne sei gestorben, sie habe ihren Geist am Galgen, der später vernichtet
wurde, aufgegeben. (Die Abend-Aurora ist in die Nacht verschwunden.) Die
Fliegen, Stechmücken und Wespen kommen wieder hervor und fallen in das
Spinnennetz (in die Morgen-Aurora).

Beherzigenswert!) sind die Schlußbetrachtungen des Verfassers. Er zeigt
hier den Irrthum, welcher in der früheren Auffassung der mythologischen
Thiergestalten herrschte, die eitel Symbole und Allegorien sein sollten. Aber
wie der Naturforscher muthig in die Mysterien der Natur eindringt und den
Schleier zerreißt, so hat mit demselben Freimuth der Verfasser den Problemen
der Geschichte ins Auge geschaut. Er hält sich dabei an das positiv Vor¬
handene, er ordnet die Thatsachen, welche sich auf die allgemeine Geschichte


Untersuchung. Die Abend- und Morgen-Aurora werden mit der Spinne
und dem Spinngewebe verglichen; die Abendaurora muß die Morgenaurora
während der Nacht verfertigen. Wenn die Sonne ohne Wolken untergeht,
wenn die glänzende Spinne sich am westlichen Himmel zeigt, so ist das für
den nächsten Morgen ein Anzeichen schönen Wetters. Im Rigveda, also
einem der ältesten Zeugnisse indischen Geistes, haben wir darüber mehrere
interessante Data: die Aurora webt während der Nacht das Gewand für
ihren Gemahl. In der Sage vom Odysseus löst Penelope in der Nacht die
Arbeit des Tages wieder auf; es ist das eine andere Seite desselben Mythus;
Penelope-Aurora löst am Abend das Gewebe auf, um es am Morgen wieder
neu zu fertigen. Der griechische Mythus von Arachne, welche Athene, eifer¬
süchtig auf ihre Geschicklichkeit im Weben, in eine Spinne verwandelt, ist eine
Spielart desselben Mythus von der webenden Aurora. Im Mahabharata,
der berühmten umfangreichen indischen Epopöe, die den Kampf zweier Fürsten¬
familien schildert, weist Gubernatis zwei Weiber nach, welche spinnen und
weben; sie spinnen am Webstuhl des Jahres, „am sausenden Webstuhl der
Zeit", mit schwarzen und weißen Fäden, in denen der Verfasser mit Recht
Tage und Nächte sieht. Wir haben also eine gutartige, segensreiche, wohl¬
thätige und eine bösartige Spinne. Bet Deutschen, Franzosen, Italienern,
Griechen, Jndiern — überall dasselbe. Und auch die Russen, deren Mythen
der Verfasser tüchtig durchstudirt hat und überall zum Vergleiche heranzieht,
beweisen ihren indogermanischen Charakter durch den Mythus von der
Spinne.

In Afanastew's Sammlung spinnt die Spinne ihr Netz aus, um Fliegen,
Stechmücken und Wespen zu fangen; eine Wespe, die ins Netz geraes, bittet
sie freizulassen, in Anbetracht der vielen Kinder, die sie hinterlassen werde.
Die leichtgläubige Spinne läßt sie auch fliegen; aber sie warnt nun ihre Ge¬
nossen vor dem Netze der Spinne. Letztere ruft nun Heuschrecke, Motte und
Wanze — nächtliche Thiere! — zu Hilfe, welche verkündigen müssen, die
Spinne sei gestorben, sie habe ihren Geist am Galgen, der später vernichtet
wurde, aufgegeben. (Die Abend-Aurora ist in die Nacht verschwunden.) Die
Fliegen, Stechmücken und Wespen kommen wieder hervor und fallen in das
Spinnennetz (in die Morgen-Aurora).

Beherzigenswert!) sind die Schlußbetrachtungen des Verfassers. Er zeigt
hier den Irrthum, welcher in der früheren Auffassung der mythologischen
Thiergestalten herrschte, die eitel Symbole und Allegorien sein sollten. Aber
wie der Naturforscher muthig in die Mysterien der Natur eindringt und den
Schleier zerreißt, so hat mit demselben Freimuth der Verfasser den Problemen
der Geschichte ins Auge geschaut. Er hält sich dabei an das positiv Vor¬
handene, er ordnet die Thatsachen, welche sich auf die allgemeine Geschichte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0219" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130863"/>
          <p xml:id="ID_696" prev="#ID_695"> Untersuchung. Die Abend- und Morgen-Aurora werden mit der Spinne<lb/>
und dem Spinngewebe verglichen; die Abendaurora muß die Morgenaurora<lb/>
während der Nacht verfertigen. Wenn die Sonne ohne Wolken untergeht,<lb/>
wenn die glänzende Spinne sich am westlichen Himmel zeigt, so ist das für<lb/>
den nächsten Morgen ein Anzeichen schönen Wetters. Im Rigveda, also<lb/>
einem der ältesten Zeugnisse indischen Geistes, haben wir darüber mehrere<lb/>
interessante Data: die Aurora webt während der Nacht das Gewand für<lb/>
ihren Gemahl. In der Sage vom Odysseus löst Penelope in der Nacht die<lb/>
Arbeit des Tages wieder auf; es ist das eine andere Seite desselben Mythus;<lb/>
Penelope-Aurora löst am Abend das Gewebe auf, um es am Morgen wieder<lb/>
neu zu fertigen. Der griechische Mythus von Arachne, welche Athene, eifer¬<lb/>
süchtig auf ihre Geschicklichkeit im Weben, in eine Spinne verwandelt, ist eine<lb/>
Spielart desselben Mythus von der webenden Aurora. Im Mahabharata,<lb/>
der berühmten umfangreichen indischen Epopöe, die den Kampf zweier Fürsten¬<lb/>
familien schildert, weist Gubernatis zwei Weiber nach, welche spinnen und<lb/>
weben; sie spinnen am Webstuhl des Jahres, &#x201E;am sausenden Webstuhl der<lb/>
Zeit", mit schwarzen und weißen Fäden, in denen der Verfasser mit Recht<lb/>
Tage und Nächte sieht. Wir haben also eine gutartige, segensreiche, wohl¬<lb/>
thätige und eine bösartige Spinne. Bet Deutschen, Franzosen, Italienern,<lb/>
Griechen, Jndiern &#x2014; überall dasselbe. Und auch die Russen, deren Mythen<lb/>
der Verfasser tüchtig durchstudirt hat und überall zum Vergleiche heranzieht,<lb/>
beweisen ihren indogermanischen Charakter durch den Mythus von der<lb/>
Spinne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_697"> In Afanastew's Sammlung spinnt die Spinne ihr Netz aus, um Fliegen,<lb/>
Stechmücken und Wespen zu fangen; eine Wespe, die ins Netz geraes, bittet<lb/>
sie freizulassen, in Anbetracht der vielen Kinder, die sie hinterlassen werde.<lb/>
Die leichtgläubige Spinne läßt sie auch fliegen; aber sie warnt nun ihre Ge¬<lb/>
nossen vor dem Netze der Spinne. Letztere ruft nun Heuschrecke, Motte und<lb/>
Wanze &#x2014; nächtliche Thiere! &#x2014; zu Hilfe, welche verkündigen müssen, die<lb/>
Spinne sei gestorben, sie habe ihren Geist am Galgen, der später vernichtet<lb/>
wurde, aufgegeben. (Die Abend-Aurora ist in die Nacht verschwunden.) Die<lb/>
Fliegen, Stechmücken und Wespen kommen wieder hervor und fallen in das<lb/>
Spinnennetz (in die Morgen-Aurora).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_698" next="#ID_699"> Beherzigenswert!) sind die Schlußbetrachtungen des Verfassers. Er zeigt<lb/>
hier den Irrthum, welcher in der früheren Auffassung der mythologischen<lb/>
Thiergestalten herrschte, die eitel Symbole und Allegorien sein sollten. Aber<lb/>
wie der Naturforscher muthig in die Mysterien der Natur eindringt und den<lb/>
Schleier zerreißt, so hat mit demselben Freimuth der Verfasser den Problemen<lb/>
der Geschichte ins Auge geschaut. Er hält sich dabei an das positiv Vor¬<lb/>
handene, er ordnet die Thatsachen, welche sich auf die allgemeine Geschichte</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0219] Untersuchung. Die Abend- und Morgen-Aurora werden mit der Spinne und dem Spinngewebe verglichen; die Abendaurora muß die Morgenaurora während der Nacht verfertigen. Wenn die Sonne ohne Wolken untergeht, wenn die glänzende Spinne sich am westlichen Himmel zeigt, so ist das für den nächsten Morgen ein Anzeichen schönen Wetters. Im Rigveda, also einem der ältesten Zeugnisse indischen Geistes, haben wir darüber mehrere interessante Data: die Aurora webt während der Nacht das Gewand für ihren Gemahl. In der Sage vom Odysseus löst Penelope in der Nacht die Arbeit des Tages wieder auf; es ist das eine andere Seite desselben Mythus; Penelope-Aurora löst am Abend das Gewebe auf, um es am Morgen wieder neu zu fertigen. Der griechische Mythus von Arachne, welche Athene, eifer¬ süchtig auf ihre Geschicklichkeit im Weben, in eine Spinne verwandelt, ist eine Spielart desselben Mythus von der webenden Aurora. Im Mahabharata, der berühmten umfangreichen indischen Epopöe, die den Kampf zweier Fürsten¬ familien schildert, weist Gubernatis zwei Weiber nach, welche spinnen und weben; sie spinnen am Webstuhl des Jahres, „am sausenden Webstuhl der Zeit", mit schwarzen und weißen Fäden, in denen der Verfasser mit Recht Tage und Nächte sieht. Wir haben also eine gutartige, segensreiche, wohl¬ thätige und eine bösartige Spinne. Bet Deutschen, Franzosen, Italienern, Griechen, Jndiern — überall dasselbe. Und auch die Russen, deren Mythen der Verfasser tüchtig durchstudirt hat und überall zum Vergleiche heranzieht, beweisen ihren indogermanischen Charakter durch den Mythus von der Spinne. In Afanastew's Sammlung spinnt die Spinne ihr Netz aus, um Fliegen, Stechmücken und Wespen zu fangen; eine Wespe, die ins Netz geraes, bittet sie freizulassen, in Anbetracht der vielen Kinder, die sie hinterlassen werde. Die leichtgläubige Spinne läßt sie auch fliegen; aber sie warnt nun ihre Ge¬ nossen vor dem Netze der Spinne. Letztere ruft nun Heuschrecke, Motte und Wanze — nächtliche Thiere! — zu Hilfe, welche verkündigen müssen, die Spinne sei gestorben, sie habe ihren Geist am Galgen, der später vernichtet wurde, aufgegeben. (Die Abend-Aurora ist in die Nacht verschwunden.) Die Fliegen, Stechmücken und Wespen kommen wieder hervor und fallen in das Spinnennetz (in die Morgen-Aurora). Beherzigenswert!) sind die Schlußbetrachtungen des Verfassers. Er zeigt hier den Irrthum, welcher in der früheren Auffassung der mythologischen Thiergestalten herrschte, die eitel Symbole und Allegorien sein sollten. Aber wie der Naturforscher muthig in die Mysterien der Natur eindringt und den Schleier zerreißt, so hat mit demselben Freimuth der Verfasser den Problemen der Geschichte ins Auge geschaut. Er hält sich dabei an das positiv Vor¬ handene, er ordnet die Thatsachen, welche sich auf die allgemeine Geschichte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/219
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/219>, abgerufen am 25.12.2024.