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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Delitzsch bei der Fortschrittspartei, eines v. Bernuth und Volk bei der liberalen
Reichspartei, die kindische Politik der Eugen Richter. Minckwitz und Ge¬
nossen zu beugen. Dann fordert das jetzige Stärkeverhältniß der reichstreuen
Parteien zu den reichsfeindlichen von den ersteren immer noch eine äußerst
nachhaltige und allseitige Ausübung der parlamentarischen Pflichten. In
dieser Hinsicht ist bisher das äußerste gesündigt worden, und nicht am we¬
nigsten von den Fractionen, welche die reichstreue Majorität zusammen bilden.
So sehr es den reichstreuen Parteien, und vor Allem der nationalliberalen
zum Ruhme gereicht, daß sie aus ihren Reihen unermüdliche Arbeiter und
Redner dem Hause gestellt haben, so wenig hat ihr Gros Anspruch auf die
erste Censur in der Rubrik Fleiß und Sitzungsbesuch. Diese Vernachlässigung
in der Ausübung parlamentarischer Pflichten, welche der Abgeordnete durch
Annahme der Wahlbewerbung und des Mandates schon auf sich nimmt, soll
nicht zu hoch angerechnet werden in gewöhnlichen Zeiten, bei Berathung von
Gesetzentwürfen, die ihrer Natur nach allgemeinere politische Grundsätze nicht
berühren und nur einen kleinen Kreis von Sachverständigen erwärmen und
beschäftigen. Bei solchen Gelegenheiten betrachten wir die Leere des Hauses
nur für einen sehr beredten Ausdruck der Nothwendigkeit der Herabsetzung
der Beschlußfähigkeitsziffer, welche diese Blätter immer befürwortet und ver¬
theidigt haben.

Aber im neuen Reichstag liegt die Sache wesentlich anders als bisher.
Wir haben es hier, wie unten noch eingehender gezeigt werden wird, mit
einer Minorität zu thun, welche durch diejenige Pflichtversäumniß in der
Präsenz Seiten der reichstreuen Parteien, die bisher die Regel bildete, d. h.
etwa durch das Fehlen von hundert Abgeordneten, sofort zur Majorität
wird. Und das Verhalten der Reichsrebellen im verflossenen Reichstage wie
im preußischen Landtage zeigt aufs deutlichste, daß insbesondere die ultra¬
montane Partei, und natürlich auch deren Helfeshelfer, mit zäher Geduld auf
solche Präsenzsünden der reichstreuen Fractionen lauern, um bei irgend einer
noch so harmlosen Gelegenheit plötzlich in hellen Haufen über das unbewehrte
Parlament herzufallen, und dem verhaßten deutschen Reich heimtückische Streiche
zu versetzen. Keine Tagesordnung, kein Präsident wird uns davor schützen,
daß wir plötzlich unter irgend einem Vorwande die wichtigsten Fragen und
Beschlüsse unsres öffentlichen Rechtes Seiten unsrer Reichsfetnde provocirt
sehen. "An die Gewehre!" "Auf den Posten!" muß daher die stehende Losung
bilden für jeden Abgeordneten, dem eine nationalgesinnte Mehrheit der Wähler
die Ehre erwiesen hat, ihn zur Wacht an der Spree zu berufen. Denn er
darf sicher sein, daß die Gegner dieser Pflicht ihrerseits genügen werden. Er
mag des Wortes gedenken, das der Kanzler jüngst aussprach: daß der An¬
greifer die Wahl der Zeit seines Angriffs frei hat. Auch die Socialdemokraten.


Delitzsch bei der Fortschrittspartei, eines v. Bernuth und Volk bei der liberalen
Reichspartei, die kindische Politik der Eugen Richter. Minckwitz und Ge¬
nossen zu beugen. Dann fordert das jetzige Stärkeverhältniß der reichstreuen
Parteien zu den reichsfeindlichen von den ersteren immer noch eine äußerst
nachhaltige und allseitige Ausübung der parlamentarischen Pflichten. In
dieser Hinsicht ist bisher das äußerste gesündigt worden, und nicht am we¬
nigsten von den Fractionen, welche die reichstreue Majorität zusammen bilden.
So sehr es den reichstreuen Parteien, und vor Allem der nationalliberalen
zum Ruhme gereicht, daß sie aus ihren Reihen unermüdliche Arbeiter und
Redner dem Hause gestellt haben, so wenig hat ihr Gros Anspruch auf die
erste Censur in der Rubrik Fleiß und Sitzungsbesuch. Diese Vernachlässigung
in der Ausübung parlamentarischer Pflichten, welche der Abgeordnete durch
Annahme der Wahlbewerbung und des Mandates schon auf sich nimmt, soll
nicht zu hoch angerechnet werden in gewöhnlichen Zeiten, bei Berathung von
Gesetzentwürfen, die ihrer Natur nach allgemeinere politische Grundsätze nicht
berühren und nur einen kleinen Kreis von Sachverständigen erwärmen und
beschäftigen. Bei solchen Gelegenheiten betrachten wir die Leere des Hauses
nur für einen sehr beredten Ausdruck der Nothwendigkeit der Herabsetzung
der Beschlußfähigkeitsziffer, welche diese Blätter immer befürwortet und ver¬
theidigt haben.

Aber im neuen Reichstag liegt die Sache wesentlich anders als bisher.
Wir haben es hier, wie unten noch eingehender gezeigt werden wird, mit
einer Minorität zu thun, welche durch diejenige Pflichtversäumniß in der
Präsenz Seiten der reichstreuen Parteien, die bisher die Regel bildete, d. h.
etwa durch das Fehlen von hundert Abgeordneten, sofort zur Majorität
wird. Und das Verhalten der Reichsrebellen im verflossenen Reichstage wie
im preußischen Landtage zeigt aufs deutlichste, daß insbesondere die ultra¬
montane Partei, und natürlich auch deren Helfeshelfer, mit zäher Geduld auf
solche Präsenzsünden der reichstreuen Fractionen lauern, um bei irgend einer
noch so harmlosen Gelegenheit plötzlich in hellen Haufen über das unbewehrte
Parlament herzufallen, und dem verhaßten deutschen Reich heimtückische Streiche
zu versetzen. Keine Tagesordnung, kein Präsident wird uns davor schützen,
daß wir plötzlich unter irgend einem Vorwande die wichtigsten Fragen und
Beschlüsse unsres öffentlichen Rechtes Seiten unsrer Reichsfetnde provocirt
sehen. „An die Gewehre!" „Auf den Posten!" muß daher die stehende Losung
bilden für jeden Abgeordneten, dem eine nationalgesinnte Mehrheit der Wähler
die Ehre erwiesen hat, ihn zur Wacht an der Spree zu berufen. Denn er
darf sicher sein, daß die Gegner dieser Pflicht ihrerseits genügen werden. Er
mag des Wortes gedenken, das der Kanzler jüngst aussprach: daß der An¬
greifer die Wahl der Zeit seines Angriffs frei hat. Auch die Socialdemokraten.


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[0160] Delitzsch bei der Fortschrittspartei, eines v. Bernuth und Volk bei der liberalen Reichspartei, die kindische Politik der Eugen Richter. Minckwitz und Ge¬ nossen zu beugen. Dann fordert das jetzige Stärkeverhältniß der reichstreuen Parteien zu den reichsfeindlichen von den ersteren immer noch eine äußerst nachhaltige und allseitige Ausübung der parlamentarischen Pflichten. In dieser Hinsicht ist bisher das äußerste gesündigt worden, und nicht am we¬ nigsten von den Fractionen, welche die reichstreue Majorität zusammen bilden. So sehr es den reichstreuen Parteien, und vor Allem der nationalliberalen zum Ruhme gereicht, daß sie aus ihren Reihen unermüdliche Arbeiter und Redner dem Hause gestellt haben, so wenig hat ihr Gros Anspruch auf die erste Censur in der Rubrik Fleiß und Sitzungsbesuch. Diese Vernachlässigung in der Ausübung parlamentarischer Pflichten, welche der Abgeordnete durch Annahme der Wahlbewerbung und des Mandates schon auf sich nimmt, soll nicht zu hoch angerechnet werden in gewöhnlichen Zeiten, bei Berathung von Gesetzentwürfen, die ihrer Natur nach allgemeinere politische Grundsätze nicht berühren und nur einen kleinen Kreis von Sachverständigen erwärmen und beschäftigen. Bei solchen Gelegenheiten betrachten wir die Leere des Hauses nur für einen sehr beredten Ausdruck der Nothwendigkeit der Herabsetzung der Beschlußfähigkeitsziffer, welche diese Blätter immer befürwortet und ver¬ theidigt haben. Aber im neuen Reichstag liegt die Sache wesentlich anders als bisher. Wir haben es hier, wie unten noch eingehender gezeigt werden wird, mit einer Minorität zu thun, welche durch diejenige Pflichtversäumniß in der Präsenz Seiten der reichstreuen Parteien, die bisher die Regel bildete, d. h. etwa durch das Fehlen von hundert Abgeordneten, sofort zur Majorität wird. Und das Verhalten der Reichsrebellen im verflossenen Reichstage wie im preußischen Landtage zeigt aufs deutlichste, daß insbesondere die ultra¬ montane Partei, und natürlich auch deren Helfeshelfer, mit zäher Geduld auf solche Präsenzsünden der reichstreuen Fractionen lauern, um bei irgend einer noch so harmlosen Gelegenheit plötzlich in hellen Haufen über das unbewehrte Parlament herzufallen, und dem verhaßten deutschen Reich heimtückische Streiche zu versetzen. Keine Tagesordnung, kein Präsident wird uns davor schützen, daß wir plötzlich unter irgend einem Vorwande die wichtigsten Fragen und Beschlüsse unsres öffentlichen Rechtes Seiten unsrer Reichsfetnde provocirt sehen. „An die Gewehre!" „Auf den Posten!" muß daher die stehende Losung bilden für jeden Abgeordneten, dem eine nationalgesinnte Mehrheit der Wähler die Ehre erwiesen hat, ihn zur Wacht an der Spree zu berufen. Denn er darf sicher sein, daß die Gegner dieser Pflicht ihrerseits genügen werden. Er mag des Wortes gedenken, das der Kanzler jüngst aussprach: daß der An¬ greifer die Wahl der Zeit seines Angriffs frei hat. Auch die Socialdemokraten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/160>, abgerufen am 23.07.2024.