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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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überaus günstig. Während der Rang und der Reichthum seiner Eltern ihm
von vorn herein den Eintritt in jede seinem inneren Beruf entsprechende Lauf¬
bahn leicht machte, lag in seiner Eigenschaft des nachgebornen Sohnes kraft
des geltenden Erbrechtes ein scharfer Sporn, sich mit eigener Kraft eine sei¬
nem Namen entsprechende Lebensstellung zu gewinnen. Schon im häuslichen
Kreise dem belebenden und erwärmenden Einflüsse welterfahrener Männer
und ausgezeichneter Frauen hingegeben, empfing er auch im Verkehr seiner
Familie mit vielen der bedeutendsten Persönlichkeiten in der piemontesischen
Hauptstadt frühzeitig starke Anregungen seiner Geistes- und Seelenkräfte, und
wenn die schwüle Atmosphäre des damaligen Turin der freien Bewegung
des Gedankens und des Willens nichts weniger als förderlich sein konnte, so
wurde sie doch für das Haus Cavour, Dank seinen verwandtschaftlichen Be¬
ziehungen mit Genf, von Zeit zu Zeit durch einen schweizerischen Luftzug
erfrischt.

Der mit dem Sturze Napoleon's eingetretene europäische Rückschlag gegen
den Geist und die Wirkungen der französischen Revolution machte sich in Pie-
mont stärker und nachhaltiger fühlbar, als in irgend einem andern Lande,
Spanien etwa ausgenommen. Das legitime Königthum mit seiner unbeschränkten
Machtvollkommenheit und die alleinseligmachende Kirche mit ihren überliefer¬
ten Ansprüchen und vieler ihrer mittelalterlichen Vorrechte traten wieder in
die Rolle ein, aus welcher sie durch die Stürme des letzten Vierteljahrhunderts
herausgerissen waren. Von Turin aus gab ein aufgeblasenes, bigottes, ge¬
dankenfeindliches Hofwesen den Ton an, nach welchem der öffentliche Geist
gestimmt werden sollte und der zunächst bei dem sonst sehr achtbaren piemon¬
tesischen Adel vollen Anklang fand. Auch im Hause Cavour galt in staat¬
lichen und kirchlichen Dingen eine strenge Altgläubigkeit, gegen deren Herr¬
schaft der Selbständigkeitstrieb des jüngsten Mitgliedes der Familie sich zwar
von Kindheit an gelegentlich auflehnte, ohne sich jedoch jemals von ihrem
Drucke völlig freimachen zu können.

Dem Soldatenstande bestimmt, trat Cavour mit seinem zehnten Jahr in
die Kriegsschule, welche ihn, unter Vernachlässigung der übrigen Lehrstoffe
vorzugsweise in den mathematischen Wissenschaften förderte, so daß Cavour
später die Lückenhaftigkeit seiner Schulbildung schmerzlich empfand und ins¬
besondere beklagte, daß er zwar denken, aber nicht schreiben, das Gedachte
ausdrücken gelernt habe. Philosophie und Dichtung blieben ihm ganz unzu¬
gänglich, selbst Dante und Ariost blieben ihm völlig fremd und zu allen
Spielen der Einbildungskraft fühlte er sich so unfähig, daß es ihm, seinem
eigenen Geständnisse nach, niemals gelang, die einfachste Geschichte zur Un¬
terhaltung eines Kindes zu erfinden.

Als Kriegsschüler verdankte er seinem Namen die Aufnahme in das könig-


überaus günstig. Während der Rang und der Reichthum seiner Eltern ihm
von vorn herein den Eintritt in jede seinem inneren Beruf entsprechende Lauf¬
bahn leicht machte, lag in seiner Eigenschaft des nachgebornen Sohnes kraft
des geltenden Erbrechtes ein scharfer Sporn, sich mit eigener Kraft eine sei¬
nem Namen entsprechende Lebensstellung zu gewinnen. Schon im häuslichen
Kreise dem belebenden und erwärmenden Einflüsse welterfahrener Männer
und ausgezeichneter Frauen hingegeben, empfing er auch im Verkehr seiner
Familie mit vielen der bedeutendsten Persönlichkeiten in der piemontesischen
Hauptstadt frühzeitig starke Anregungen seiner Geistes- und Seelenkräfte, und
wenn die schwüle Atmosphäre des damaligen Turin der freien Bewegung
des Gedankens und des Willens nichts weniger als förderlich sein konnte, so
wurde sie doch für das Haus Cavour, Dank seinen verwandtschaftlichen Be¬
ziehungen mit Genf, von Zeit zu Zeit durch einen schweizerischen Luftzug
erfrischt.

Der mit dem Sturze Napoleon's eingetretene europäische Rückschlag gegen
den Geist und die Wirkungen der französischen Revolution machte sich in Pie-
mont stärker und nachhaltiger fühlbar, als in irgend einem andern Lande,
Spanien etwa ausgenommen. Das legitime Königthum mit seiner unbeschränkten
Machtvollkommenheit und die alleinseligmachende Kirche mit ihren überliefer¬
ten Ansprüchen und vieler ihrer mittelalterlichen Vorrechte traten wieder in
die Rolle ein, aus welcher sie durch die Stürme des letzten Vierteljahrhunderts
herausgerissen waren. Von Turin aus gab ein aufgeblasenes, bigottes, ge¬
dankenfeindliches Hofwesen den Ton an, nach welchem der öffentliche Geist
gestimmt werden sollte und der zunächst bei dem sonst sehr achtbaren piemon¬
tesischen Adel vollen Anklang fand. Auch im Hause Cavour galt in staat¬
lichen und kirchlichen Dingen eine strenge Altgläubigkeit, gegen deren Herr¬
schaft der Selbständigkeitstrieb des jüngsten Mitgliedes der Familie sich zwar
von Kindheit an gelegentlich auflehnte, ohne sich jedoch jemals von ihrem
Drucke völlig freimachen zu können.

Dem Soldatenstande bestimmt, trat Cavour mit seinem zehnten Jahr in
die Kriegsschule, welche ihn, unter Vernachlässigung der übrigen Lehrstoffe
vorzugsweise in den mathematischen Wissenschaften förderte, so daß Cavour
später die Lückenhaftigkeit seiner Schulbildung schmerzlich empfand und ins¬
besondere beklagte, daß er zwar denken, aber nicht schreiben, das Gedachte
ausdrücken gelernt habe. Philosophie und Dichtung blieben ihm ganz unzu¬
gänglich, selbst Dante und Ariost blieben ihm völlig fremd und zu allen
Spielen der Einbildungskraft fühlte er sich so unfähig, daß es ihm, seinem
eigenen Geständnisse nach, niemals gelang, die einfachste Geschichte zur Un¬
terhaltung eines Kindes zu erfinden.

Als Kriegsschüler verdankte er seinem Namen die Aufnahme in das könig-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/128>, abgerufen am 26.08.2024.