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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Thiers stürzen, ehe die Pariser ein Lustspiel sehen dursten, in welchem sich
der Verfasser ebenso über die Hankees lustig machte, wie er sich in der '"Fa¬
milie Benoiton" über die Pariser früher lustig gemacht hatte.

Wir haben ihn also gesehen den Onkel Sam, und seine Nichte Sarah,
die über ihre Courmacher doppelte Buchhaltung führt, und einen jungen
Franzosen fast mit Gewalt entführt, um ihn zur Heirath zu zwingen, und
alle die anderen Carricaturen, die Sardon in allen möglichen Reisebeschrei¬
bungen aufgelesen hat, und mit seiner großen Geschicklichkeit vorführt, und
man fragt sich erstaunt, was der vorigen Regierung eingefallen ist, ein solch
unschuldiges Marionettenspiel zu verbieten. Das Stück wird gut gespielt, ist
prachtvoll ausgestattet, zeigt in Frauen-Toilette unerhörten Luxus und Ge¬
schmack und wird deshalb Sardon viel Geld einbringen, aber seiner Unsterb¬
lichkeit wenig nützen.

Wenn schon im Onkel Sam nur wenig Handlung ist, und diese wenige
ganz augenscheinlich nur als Rahmen für die unendlichen Episoden dienen
soll, so ist doch noch wenigstens ein dramatischer Faden darin, der selbst in
einer sehr dramatischen Scene culminirt, aber Sardon's neuestes Erzeugniß
"I^eL UvrveillöusiZL", welches er vor 14 Tagen im Theater des Variete's hat auf¬
führen lassen, ist nur noch eine laterna maxies.. Hier hat die mise score,
die Sorgfalt, mit der Kostüme und Requisiten hergestellt worden sind, alle
dramatische Handlung und allen dramatischen Werth verdrängt, und man
kann bedauern, wie ein Mann von Sardon's Talente dem Humbug
seiner Zeit in solchem Maße huldigt. Der Director des Theaters hat
80,000 Fras. ausgeben müssen, um Kostüme, Decorationen, Thee- und
Kaffeegeschirr, Stühle und Tische, Tischzeug, Vorhänge, kurz Alles was auf
die Bühne kommt, ganz genau so anfertigen zu lassen, wie man die Dinge
unter der Direetorial-Regierung hatte, und die Ausstellung, die in Barnum's
Museum oder bei Madam Tassaud in London am Platze wäre, bildet das
einzig Interessante an diesem Stücke. Vielleicht genügt es, um das Theater
100 Mal mit neugierigen Parisern zu füllen, und der Director bekommt viel¬
leicht die ausgelegten 80,000 Fras. wieder herein, aber vom Verfasser von
"?at,rie" und "1.68 ?attss as mouelis" (in deutscher Bearbeitung wohl "der
letzte Brief" genannt) konnte man besseres erwarten. In den ersten Vor¬
stellungen hat das enttäuschte Publikum gemurrt und selbst gepfiffen, aber
die, die jetzt hineingehen, wissen schon, daß sie nur eine Ausstellung excentri¬
scher Kostüme zu erwarten haben und begnügen sich damit.

Ein Erzeugniß anderer Art ist Alexander Dumas' Monsieur ^Ipuonsv",
dies ist ein Drama, ist aus Charakteren und Handlung zusammengesetzt, und
Deeorationsmaler und Schneider sind hier Nebenpersonen. Welches ist aber
die Handlung und welches sind die Charaktere? In der Presse war nach der


Grenzboten I. 1874. 14

Thiers stürzen, ehe die Pariser ein Lustspiel sehen dursten, in welchem sich
der Verfasser ebenso über die Hankees lustig machte, wie er sich in der '„Fa¬
milie Benoiton" über die Pariser früher lustig gemacht hatte.

Wir haben ihn also gesehen den Onkel Sam, und seine Nichte Sarah,
die über ihre Courmacher doppelte Buchhaltung führt, und einen jungen
Franzosen fast mit Gewalt entführt, um ihn zur Heirath zu zwingen, und
alle die anderen Carricaturen, die Sardon in allen möglichen Reisebeschrei¬
bungen aufgelesen hat, und mit seiner großen Geschicklichkeit vorführt, und
man fragt sich erstaunt, was der vorigen Regierung eingefallen ist, ein solch
unschuldiges Marionettenspiel zu verbieten. Das Stück wird gut gespielt, ist
prachtvoll ausgestattet, zeigt in Frauen-Toilette unerhörten Luxus und Ge¬
schmack und wird deshalb Sardon viel Geld einbringen, aber seiner Unsterb¬
lichkeit wenig nützen.

Wenn schon im Onkel Sam nur wenig Handlung ist, und diese wenige
ganz augenscheinlich nur als Rahmen für die unendlichen Episoden dienen
soll, so ist doch noch wenigstens ein dramatischer Faden darin, der selbst in
einer sehr dramatischen Scene culminirt, aber Sardon's neuestes Erzeugniß
„I^eL UvrveillöusiZL", welches er vor 14 Tagen im Theater des Variete's hat auf¬
führen lassen, ist nur noch eine laterna maxies.. Hier hat die mise score,
die Sorgfalt, mit der Kostüme und Requisiten hergestellt worden sind, alle
dramatische Handlung und allen dramatischen Werth verdrängt, und man
kann bedauern, wie ein Mann von Sardon's Talente dem Humbug
seiner Zeit in solchem Maße huldigt. Der Director des Theaters hat
80,000 Fras. ausgeben müssen, um Kostüme, Decorationen, Thee- und
Kaffeegeschirr, Stühle und Tische, Tischzeug, Vorhänge, kurz Alles was auf
die Bühne kommt, ganz genau so anfertigen zu lassen, wie man die Dinge
unter der Direetorial-Regierung hatte, und die Ausstellung, die in Barnum's
Museum oder bei Madam Tassaud in London am Platze wäre, bildet das
einzig Interessante an diesem Stücke. Vielleicht genügt es, um das Theater
100 Mal mit neugierigen Parisern zu füllen, und der Director bekommt viel¬
leicht die ausgelegten 80,000 Fras. wieder herein, aber vom Verfasser von
»?at,rie« und „1.68 ?attss as mouelis" (in deutscher Bearbeitung wohl „der
letzte Brief" genannt) konnte man besseres erwarten. In den ersten Vor¬
stellungen hat das enttäuschte Publikum gemurrt und selbst gepfiffen, aber
die, die jetzt hineingehen, wissen schon, daß sie nur eine Ausstellung excentri¬
scher Kostüme zu erwarten haben und begnügen sich damit.

Ein Erzeugniß anderer Art ist Alexander Dumas' Monsieur ^Ipuonsv",
dies ist ein Drama, ist aus Charakteren und Handlung zusammengesetzt, und
Deeorationsmaler und Schneider sind hier Nebenpersonen. Welches ist aber
die Handlung und welches sind die Charaktere? In der Presse war nach der


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[0111] Thiers stürzen, ehe die Pariser ein Lustspiel sehen dursten, in welchem sich der Verfasser ebenso über die Hankees lustig machte, wie er sich in der '„Fa¬ milie Benoiton" über die Pariser früher lustig gemacht hatte. Wir haben ihn also gesehen den Onkel Sam, und seine Nichte Sarah, die über ihre Courmacher doppelte Buchhaltung führt, und einen jungen Franzosen fast mit Gewalt entführt, um ihn zur Heirath zu zwingen, und alle die anderen Carricaturen, die Sardon in allen möglichen Reisebeschrei¬ bungen aufgelesen hat, und mit seiner großen Geschicklichkeit vorführt, und man fragt sich erstaunt, was der vorigen Regierung eingefallen ist, ein solch unschuldiges Marionettenspiel zu verbieten. Das Stück wird gut gespielt, ist prachtvoll ausgestattet, zeigt in Frauen-Toilette unerhörten Luxus und Ge¬ schmack und wird deshalb Sardon viel Geld einbringen, aber seiner Unsterb¬ lichkeit wenig nützen. Wenn schon im Onkel Sam nur wenig Handlung ist, und diese wenige ganz augenscheinlich nur als Rahmen für die unendlichen Episoden dienen soll, so ist doch noch wenigstens ein dramatischer Faden darin, der selbst in einer sehr dramatischen Scene culminirt, aber Sardon's neuestes Erzeugniß „I^eL UvrveillöusiZL", welches er vor 14 Tagen im Theater des Variete's hat auf¬ führen lassen, ist nur noch eine laterna maxies.. Hier hat die mise score, die Sorgfalt, mit der Kostüme und Requisiten hergestellt worden sind, alle dramatische Handlung und allen dramatischen Werth verdrängt, und man kann bedauern, wie ein Mann von Sardon's Talente dem Humbug seiner Zeit in solchem Maße huldigt. Der Director des Theaters hat 80,000 Fras. ausgeben müssen, um Kostüme, Decorationen, Thee- und Kaffeegeschirr, Stühle und Tische, Tischzeug, Vorhänge, kurz Alles was auf die Bühne kommt, ganz genau so anfertigen zu lassen, wie man die Dinge unter der Direetorial-Regierung hatte, und die Ausstellung, die in Barnum's Museum oder bei Madam Tassaud in London am Platze wäre, bildet das einzig Interessante an diesem Stücke. Vielleicht genügt es, um das Theater 100 Mal mit neugierigen Parisern zu füllen, und der Director bekommt viel¬ leicht die ausgelegten 80,000 Fras. wieder herein, aber vom Verfasser von »?at,rie« und „1.68 ?attss as mouelis" (in deutscher Bearbeitung wohl „der letzte Brief" genannt) konnte man besseres erwarten. In den ersten Vor¬ stellungen hat das enttäuschte Publikum gemurrt und selbst gepfiffen, aber die, die jetzt hineingehen, wissen schon, daß sie nur eine Ausstellung excentri¬ scher Kostüme zu erwarten haben und begnügen sich damit. Ein Erzeugniß anderer Art ist Alexander Dumas' Monsieur ^Ipuonsv", dies ist ein Drama, ist aus Charakteren und Handlung zusammengesetzt, und Deeorationsmaler und Schneider sind hier Nebenpersonen. Welches ist aber die Handlung und welches sind die Charaktere? In der Presse war nach der Grenzboten I. 1874. 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/111>, abgerufen am 26.12.2024.