Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Meinung darüber zu machen, ob die Pariser Bevölkerung sich ökonomisch
wohl befindet oder nicht; diesen Barometer habe ich in den Theatern gefunden,
und der zeigt so andauernd schönes Wetter, daß ich fast auch an seiner Richtig¬
keit zweifeln möchte. Wenn Sie sehen könnten, wie die 20 -- 30 Pariser
Theater jeden Abend gestopft voll sind, trotz aller Erhöhung der Preise, so
würden Sie die Ueberzeugung gewinnen, daß es den Parisern noch nicht an
Geld fehlen kann, und daß sie sich auch noch ebenso gern wie früher
amüsiren.

Da alle Theater, mit alleiniger Ausnahme des ^IMtre dran^iZ, jetzt
ihre Winterneuigkeiten vom Stapel gelassen haben, so ist es Ihnen vielleicht
von einigem Interesse zu hören, was die dramatischen Köche dieses Jahr gelie¬
fert haben. Ohne mich von den schönen Einnahmen, die sie alle machen,
blenden zu lassen, zögere ich nicht, Ihnen von vornherein zu sagen, daß Nichts
von Werth dabei ist, daß die meisten dieser Neuigkeiten die Saison hindurch
leben, und dann eines gewöhnlichen Todes sterben werden. Eine kleine
Operette liyueur ä'or", die im Theater des Menüs"Plaifirs gegeben
worden, macht hiervon insofern eine Ausnahme, als sie nach der zweiten Bor¬
stellung eines gewaltsamen Todes starb. Nachdem man nämlich in den
letzten Jahren in Vaudevilles und Operetten in der Schlüpfrigkeit so weit
gegangen war, daß man glaubte, man könne gar nicht weiter gehen, so hatten
die Verfasser der "I,iyusur ä'or" doch die Möglichkeit gefunden, dies möglich
zu machen, und das war doch dem General L'admirault (in dessen Namen,
als Gouverneur der Paris, die Theaterpolizei gehandhabt wird, so lange wir
im Belagerungszustande sind) zu bunt geworden, und er hat das Stück unter¬
sagt. Ich selbst habe es nicht gesehen, aber ich kenne Jemanden, der es
gesehen hat, und dieser hat mir das Sujet erzählt, aber da es sich zum Weiter¬
erzählen durchaus nicht eignet, so behalte ich es für mich.

Die erste wichtige Neuigkeit war Sardon's "Onkel Sam", diese Schil¬
derung amerikanischer Zustände, die schon voriges Jahr aufgeführt werden
sollte, aber von Thiers' Regierung verboten wurde, weil sie fürchtete, damit
die in Paris lebenden Amerikaner vor den Kopf zu stoßen. Vergebens pro?
testirte ein Theil der amerikanischen Colonie dagegen, vergebens weigerte sich
der Gesandte Washburne, von dem Manuscripte des Stückes Kenntniß zu
nehmen, wie ihn Sardon und sein Director baten zu thun, weil er ganz
richtig sagte, daß dies ja aussehen würde, als acceptirte er diesen aufgedrun¬
genen Schutz, und als naße er sich an, darüber zu urtheilen, ob ein Theater¬
stück aufgeführt werden dürfe, oder nicht, vergebens schickte Sardon sein
Manuscript nach New-Iork und wurde es dort ohne Hinderniß und selbst
mit Erfolg aufgeführt; der Präsident Thiers und sein Minister Jules Simon
blieben unerbittlich, und die monarchische Coalition vom 24. Mai mußte


Meinung darüber zu machen, ob die Pariser Bevölkerung sich ökonomisch
wohl befindet oder nicht; diesen Barometer habe ich in den Theatern gefunden,
und der zeigt so andauernd schönes Wetter, daß ich fast auch an seiner Richtig¬
keit zweifeln möchte. Wenn Sie sehen könnten, wie die 20 — 30 Pariser
Theater jeden Abend gestopft voll sind, trotz aller Erhöhung der Preise, so
würden Sie die Ueberzeugung gewinnen, daß es den Parisern noch nicht an
Geld fehlen kann, und daß sie sich auch noch ebenso gern wie früher
amüsiren.

Da alle Theater, mit alleiniger Ausnahme des ^IMtre dran^iZ, jetzt
ihre Winterneuigkeiten vom Stapel gelassen haben, so ist es Ihnen vielleicht
von einigem Interesse zu hören, was die dramatischen Köche dieses Jahr gelie¬
fert haben. Ohne mich von den schönen Einnahmen, die sie alle machen,
blenden zu lassen, zögere ich nicht, Ihnen von vornherein zu sagen, daß Nichts
von Werth dabei ist, daß die meisten dieser Neuigkeiten die Saison hindurch
leben, und dann eines gewöhnlichen Todes sterben werden. Eine kleine
Operette liyueur ä'or", die im Theater des Menüs«Plaifirs gegeben
worden, macht hiervon insofern eine Ausnahme, als sie nach der zweiten Bor¬
stellung eines gewaltsamen Todes starb. Nachdem man nämlich in den
letzten Jahren in Vaudevilles und Operetten in der Schlüpfrigkeit so weit
gegangen war, daß man glaubte, man könne gar nicht weiter gehen, so hatten
die Verfasser der „I,iyusur ä'or" doch die Möglichkeit gefunden, dies möglich
zu machen, und das war doch dem General L'admirault (in dessen Namen,
als Gouverneur der Paris, die Theaterpolizei gehandhabt wird, so lange wir
im Belagerungszustande sind) zu bunt geworden, und er hat das Stück unter¬
sagt. Ich selbst habe es nicht gesehen, aber ich kenne Jemanden, der es
gesehen hat, und dieser hat mir das Sujet erzählt, aber da es sich zum Weiter¬
erzählen durchaus nicht eignet, so behalte ich es für mich.

Die erste wichtige Neuigkeit war Sardon's „Onkel Sam", diese Schil¬
derung amerikanischer Zustände, die schon voriges Jahr aufgeführt werden
sollte, aber von Thiers' Regierung verboten wurde, weil sie fürchtete, damit
die in Paris lebenden Amerikaner vor den Kopf zu stoßen. Vergebens pro?
testirte ein Theil der amerikanischen Colonie dagegen, vergebens weigerte sich
der Gesandte Washburne, von dem Manuscripte des Stückes Kenntniß zu
nehmen, wie ihn Sardon und sein Director baten zu thun, weil er ganz
richtig sagte, daß dies ja aussehen würde, als acceptirte er diesen aufgedrun¬
genen Schutz, und als naße er sich an, darüber zu urtheilen, ob ein Theater¬
stück aufgeführt werden dürfe, oder nicht, vergebens schickte Sardon sein
Manuscript nach New-Iork und wurde es dort ohne Hinderniß und selbst
mit Erfolg aufgeführt; der Präsident Thiers und sein Minister Jules Simon
blieben unerbittlich, und die monarchische Coalition vom 24. Mai mußte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0110" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130754"/>
          <p xml:id="ID_301" prev="#ID_300"> Meinung darüber zu machen, ob die Pariser Bevölkerung sich ökonomisch<lb/>
wohl befindet oder nicht; diesen Barometer habe ich in den Theatern gefunden,<lb/>
und der zeigt so andauernd schönes Wetter, daß ich fast auch an seiner Richtig¬<lb/>
keit zweifeln möchte. Wenn Sie sehen könnten, wie die 20 &#x2014; 30 Pariser<lb/>
Theater jeden Abend gestopft voll sind, trotz aller Erhöhung der Preise, so<lb/>
würden Sie die Ueberzeugung gewinnen, daß es den Parisern noch nicht an<lb/>
Geld fehlen kann, und daß sie sich auch noch ebenso gern wie früher<lb/>
amüsiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_302"> Da alle Theater, mit alleiniger Ausnahme des ^IMtre dran^iZ, jetzt<lb/>
ihre Winterneuigkeiten vom Stapel gelassen haben, so ist es Ihnen vielleicht<lb/>
von einigem Interesse zu hören, was die dramatischen Köche dieses Jahr gelie¬<lb/>
fert haben. Ohne mich von den schönen Einnahmen, die sie alle machen,<lb/>
blenden zu lassen, zögere ich nicht, Ihnen von vornherein zu sagen, daß Nichts<lb/>
von Werth dabei ist, daß die meisten dieser Neuigkeiten die Saison hindurch<lb/>
leben, und dann eines gewöhnlichen Todes sterben werden. Eine kleine<lb/>
Operette liyueur ä'or", die im Theater des Menüs«Plaifirs gegeben<lb/>
worden, macht hiervon insofern eine Ausnahme, als sie nach der zweiten Bor¬<lb/>
stellung eines gewaltsamen Todes starb. Nachdem man nämlich in den<lb/>
letzten Jahren in Vaudevilles und Operetten in der Schlüpfrigkeit so weit<lb/>
gegangen war, daß man glaubte, man könne gar nicht weiter gehen, so hatten<lb/>
die Verfasser der &#x201E;I,iyusur ä'or" doch die Möglichkeit gefunden, dies möglich<lb/>
zu machen, und das war doch dem General L'admirault (in dessen Namen,<lb/>
als Gouverneur der Paris, die Theaterpolizei gehandhabt wird, so lange wir<lb/>
im Belagerungszustande sind) zu bunt geworden, und er hat das Stück unter¬<lb/>
sagt. Ich selbst habe es nicht gesehen, aber ich kenne Jemanden, der es<lb/>
gesehen hat, und dieser hat mir das Sujet erzählt, aber da es sich zum Weiter¬<lb/>
erzählen durchaus nicht eignet, so behalte ich es für mich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_303" next="#ID_304"> Die erste wichtige Neuigkeit war Sardon's &#x201E;Onkel Sam", diese Schil¬<lb/>
derung amerikanischer Zustände, die schon voriges Jahr aufgeführt werden<lb/>
sollte, aber von Thiers' Regierung verboten wurde, weil sie fürchtete, damit<lb/>
die in Paris lebenden Amerikaner vor den Kopf zu stoßen. Vergebens pro?<lb/>
testirte ein Theil der amerikanischen Colonie dagegen, vergebens weigerte sich<lb/>
der Gesandte Washburne, von dem Manuscripte des Stückes Kenntniß zu<lb/>
nehmen, wie ihn Sardon und sein Director baten zu thun, weil er ganz<lb/>
richtig sagte, daß dies ja aussehen würde, als acceptirte er diesen aufgedrun¬<lb/>
genen Schutz, und als naße er sich an, darüber zu urtheilen, ob ein Theater¬<lb/>
stück aufgeführt werden dürfe, oder nicht, vergebens schickte Sardon sein<lb/>
Manuscript nach New-Iork und wurde es dort ohne Hinderniß und selbst<lb/>
mit Erfolg aufgeführt; der Präsident Thiers und sein Minister Jules Simon<lb/>
blieben unerbittlich, und die monarchische Coalition vom 24. Mai mußte</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0110] Meinung darüber zu machen, ob die Pariser Bevölkerung sich ökonomisch wohl befindet oder nicht; diesen Barometer habe ich in den Theatern gefunden, und der zeigt so andauernd schönes Wetter, daß ich fast auch an seiner Richtig¬ keit zweifeln möchte. Wenn Sie sehen könnten, wie die 20 — 30 Pariser Theater jeden Abend gestopft voll sind, trotz aller Erhöhung der Preise, so würden Sie die Ueberzeugung gewinnen, daß es den Parisern noch nicht an Geld fehlen kann, und daß sie sich auch noch ebenso gern wie früher amüsiren. Da alle Theater, mit alleiniger Ausnahme des ^IMtre dran^iZ, jetzt ihre Winterneuigkeiten vom Stapel gelassen haben, so ist es Ihnen vielleicht von einigem Interesse zu hören, was die dramatischen Köche dieses Jahr gelie¬ fert haben. Ohne mich von den schönen Einnahmen, die sie alle machen, blenden zu lassen, zögere ich nicht, Ihnen von vornherein zu sagen, daß Nichts von Werth dabei ist, daß die meisten dieser Neuigkeiten die Saison hindurch leben, und dann eines gewöhnlichen Todes sterben werden. Eine kleine Operette liyueur ä'or", die im Theater des Menüs«Plaifirs gegeben worden, macht hiervon insofern eine Ausnahme, als sie nach der zweiten Bor¬ stellung eines gewaltsamen Todes starb. Nachdem man nämlich in den letzten Jahren in Vaudevilles und Operetten in der Schlüpfrigkeit so weit gegangen war, daß man glaubte, man könne gar nicht weiter gehen, so hatten die Verfasser der „I,iyusur ä'or" doch die Möglichkeit gefunden, dies möglich zu machen, und das war doch dem General L'admirault (in dessen Namen, als Gouverneur der Paris, die Theaterpolizei gehandhabt wird, so lange wir im Belagerungszustande sind) zu bunt geworden, und er hat das Stück unter¬ sagt. Ich selbst habe es nicht gesehen, aber ich kenne Jemanden, der es gesehen hat, und dieser hat mir das Sujet erzählt, aber da es sich zum Weiter¬ erzählen durchaus nicht eignet, so behalte ich es für mich. Die erste wichtige Neuigkeit war Sardon's „Onkel Sam", diese Schil¬ derung amerikanischer Zustände, die schon voriges Jahr aufgeführt werden sollte, aber von Thiers' Regierung verboten wurde, weil sie fürchtete, damit die in Paris lebenden Amerikaner vor den Kopf zu stoßen. Vergebens pro? testirte ein Theil der amerikanischen Colonie dagegen, vergebens weigerte sich der Gesandte Washburne, von dem Manuscripte des Stückes Kenntniß zu nehmen, wie ihn Sardon und sein Director baten zu thun, weil er ganz richtig sagte, daß dies ja aussehen würde, als acceptirte er diesen aufgedrun¬ genen Schutz, und als naße er sich an, darüber zu urtheilen, ob ein Theater¬ stück aufgeführt werden dürfe, oder nicht, vergebens schickte Sardon sein Manuscript nach New-Iork und wurde es dort ohne Hinderniß und selbst mit Erfolg aufgeführt; der Präsident Thiers und sein Minister Jules Simon blieben unerbittlich, und die monarchische Coalition vom 24. Mai mußte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/110
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/110>, abgerufen am 25.12.2024.