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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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bildlichte in seiner Person einen dreißigjährigen Kampf gegen die Hierarchie.
Gendre aus Freiburg, und Winkler aus Luzern riefen im Namen ihrer im
eignen Kanton fast rechtlosen und ganz Hülflosen Minderheiten die Hülfe des
Bundes an. Naubert aus Waadt, dem sein Ja am 12. Mai seinen Sitz
im Nationalrath gekostet, berichtete leuchtenden Auges von dem in seiner
Heimath sich vorbereitenden Umschwung. Deucher, Nationalrath aus dem
Thurgau, schloß im Namen aller liberalen Katholiken. Diese lange Reihe
abwechselnd deutscher und französischer Reden wurde von der Versammlung
über zwei Stunden lang im Sonnenbrand mit Spannung und größter Auf¬
merksamkeit angehört und manches Wort siel zündend in ihren Schooß. Lei¬
der fehlte es an einer markigen und packenden Auslegung des Programms
und ist die Volksrede bei uns zu sehr zum bloßen Toast herabgesunken ; Ael-
tere gebieten zwar noch über die richtige Form einer Volksrede, Jüngere
über viele gute Gedanken, aber die Vereinigung von Form und Inhalt fin¬
det sich nur ausnahmsweise noch bei dem Einen oder Andern. Wir haben
da neu zu lernen, was unsere Väter in den drangvollen Jahren von 1831
--1848 viel besser konnten.

Unmittelbar nach dem Tag von Solothurn veröffentlichte der Bundes¬
rath seine Vorschläge zur neuen Revision. Man hat es ihm hier und dort
sehr stark verdacht, daß er nicht selbst an der Versammlung theilgenommen
und seine Vorlage nicht sofort unmittelbar vor das Volk gebracht habe.
Glücklicherweise versteht unser Bundesrath seine Stellung besser als seine Tadler;
weder seine Mitglieder noch seine Vorschläge hatten in Solothurn etwas zu thun.
Seine Mitglieder nicht: wenn unser Bundesrath zwar sehr wenig laute und rau¬
schende Volksthümlichkeit genießt, dafür aber des festen und stillen Vertrauens
aller Billigdenkenden, so verdankt er das seiner Mäßigung und dem allge¬
meinen Glauben an seine Gerechtigkeit; Beides verbot seinen Mitgliedern, sich
persönlich an die Spitze einer Demonstration zu stellen, welche so großartig
sie auch sein mochte, immer bloß die einer Partei war. Aber auch die Vor¬
schläge des Bundesrathes nicht; denn nicht bloß gehören dieselben zunächst
vor die Räthe, sondern es ist eine Volksversammlung auch der aller unge¬
eignetste Ott zu einer Berathung; Zustimmung wie Kritik wären beide gleich
übereilt und jedenfalls nur die Meinung Einzelner, nie das reiflich erwogene
Urtheil der ganzen Versammlung gewesen, würden aber, ob begründet oder
unbegründet, ob die Stimmung Aller oder die Meinung nur von Einzelnen,
dennoch auf die spätern Berathungen einen verderblichen Druck ausgeübt
haben.

Für sich allein betrachtet, hat die Vorlage des Bundesrathes ziemlich all¬
gemein einen vortrefflichen Eindruck gemacht. Wiewohl sie viel weiter geht,
als die vor zwei Jahren von ihm ausgearbeitete, steht doch nun diesmal.


bildlichte in seiner Person einen dreißigjährigen Kampf gegen die Hierarchie.
Gendre aus Freiburg, und Winkler aus Luzern riefen im Namen ihrer im
eignen Kanton fast rechtlosen und ganz Hülflosen Minderheiten die Hülfe des
Bundes an. Naubert aus Waadt, dem sein Ja am 12. Mai seinen Sitz
im Nationalrath gekostet, berichtete leuchtenden Auges von dem in seiner
Heimath sich vorbereitenden Umschwung. Deucher, Nationalrath aus dem
Thurgau, schloß im Namen aller liberalen Katholiken. Diese lange Reihe
abwechselnd deutscher und französischer Reden wurde von der Versammlung
über zwei Stunden lang im Sonnenbrand mit Spannung und größter Auf¬
merksamkeit angehört und manches Wort siel zündend in ihren Schooß. Lei¬
der fehlte es an einer markigen und packenden Auslegung des Programms
und ist die Volksrede bei uns zu sehr zum bloßen Toast herabgesunken ; Ael-
tere gebieten zwar noch über die richtige Form einer Volksrede, Jüngere
über viele gute Gedanken, aber die Vereinigung von Form und Inhalt fin¬
det sich nur ausnahmsweise noch bei dem Einen oder Andern. Wir haben
da neu zu lernen, was unsere Väter in den drangvollen Jahren von 1831
—1848 viel besser konnten.

Unmittelbar nach dem Tag von Solothurn veröffentlichte der Bundes¬
rath seine Vorschläge zur neuen Revision. Man hat es ihm hier und dort
sehr stark verdacht, daß er nicht selbst an der Versammlung theilgenommen
und seine Vorlage nicht sofort unmittelbar vor das Volk gebracht habe.
Glücklicherweise versteht unser Bundesrath seine Stellung besser als seine Tadler;
weder seine Mitglieder noch seine Vorschläge hatten in Solothurn etwas zu thun.
Seine Mitglieder nicht: wenn unser Bundesrath zwar sehr wenig laute und rau¬
schende Volksthümlichkeit genießt, dafür aber des festen und stillen Vertrauens
aller Billigdenkenden, so verdankt er das seiner Mäßigung und dem allge¬
meinen Glauben an seine Gerechtigkeit; Beides verbot seinen Mitgliedern, sich
persönlich an die Spitze einer Demonstration zu stellen, welche so großartig
sie auch sein mochte, immer bloß die einer Partei war. Aber auch die Vor¬
schläge des Bundesrathes nicht; denn nicht bloß gehören dieselben zunächst
vor die Räthe, sondern es ist eine Volksversammlung auch der aller unge¬
eignetste Ott zu einer Berathung; Zustimmung wie Kritik wären beide gleich
übereilt und jedenfalls nur die Meinung Einzelner, nie das reiflich erwogene
Urtheil der ganzen Versammlung gewesen, würden aber, ob begründet oder
unbegründet, ob die Stimmung Aller oder die Meinung nur von Einzelnen,
dennoch auf die spätern Berathungen einen verderblichen Druck ausgeübt
haben.

Für sich allein betrachtet, hat die Vorlage des Bundesrathes ziemlich all¬
gemein einen vortrefflichen Eindruck gemacht. Wiewohl sie viel weiter geht,
als die vor zwei Jahren von ihm ausgearbeitete, steht doch nun diesmal.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/80>, abgerufen am 06.02.2025.