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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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wie unzugänglich blieben; von dem Augenblicke an, wo derselbe vom Natio¬
nalrath durchberathen war und nun an den Ständerath gelangte, verlor es
den Faden durch die neuen Anträge hindurch völlig, und während nun der¬
selbe Artikel zwei-, drei-, viermal wie ein Federball zwischen den beiden Räthen
hin- und her flog, ehe er seine endliche Redaktion erlangte, ward ihm ganz
wirr im Kopf und entfiel ihm jeder Muth, diese unergründlichen Verhand¬
lungen auch nur nachzulesen; wol darf behauptet werden, außer dem Kanz
ter und den damaligen Präsidenten der beiden Rathe giebt es selbst unter
denen, welche den Berathungen persönlich beigewohnt haben, nur sehr We¬
nige, welche über Entstehung und Geschichte der einzelnen Artikel genauen
Bescheid zu geben wußten. Unbedingt müssen künftig Verhandlungen, über
deren Ergebnisse der Entscheid beim Volke steht, viel durchsichtiger gehalten
werden; schon aus diesem äußern Grund wird ein später mit Gewißheit ein¬
tretendes Bundesreferendum unserm Zweikammersystem ein Ende machen.
Daß statt gruppenweise über die einzelnen Materien über den ganzen Ent¬
wurf zusammen abgestimmt wurde, dafür läßt sich viel und schlagendes
sagen : immerhin empfand ein nicht ganz kleiner Theil unseres Volkes diese
Abstimmungsweise als eine Vergewaltigung. Noch mehr aber das Drängen
und Hasten mit dem Entscheid, ehe es, mitten in seinen Frühlingsarbeiten,
Zeit gefunden, sich mit dem Gegenstand vertraut zu machen, ehe da
Jeder den Entwurf gelesen, fremden Rath darüber genommen und jenen
dann noch ein zweites Mal für sich geprüft hatte.

Daher kam, was kommen mußte. Uns erschien die Niederlage vom 12.
Mai stets als ein Sieg: unter solch ungünstigen Umständen eine an die
Mehrheit fast hinanragende Minderheit, eine so geschlossene Schaar von Freun¬
den des Neuen war mehr als ein verständiger Mensch erwarten durfte. Bald
nach dem Volksentscheid schlug denn auch die allgemeine Stimmung vollstän¬
dig um. Unverzagt erhoben die Besiegten vom 12. Mai aufs neue ihr
Haupt, entmuthigt und verdrossen schauten die Sieger unterwärts. "Viel¬
leicht ist doch besser, wir seien unterlegen, als daß wir den neuen Bund mit
ganz knapper Mehrheit hätten ins Leben setzen müssen ", sagten sich jene;
"hätten wir am 12. Mai doch lieber Ja gesagt, wer weiß was nachkommt,
Besseres jedenfalls nichts" -- dachten diese. Aber auch die Sachlage selbst
hatte zu unsern Gunsten umgeschlagen Jetzt hatten wir das Feste, Sichere,
Bekannte in unserm Besitz, das war, kleinere Abänderungen vorbehalten,
der Entwurf vom 12. Mai, die Märtyrerkrone seiner Niederlage um sein
Haupt, und die Gegner tappten nun im Finstern und wußten nicht, was sie
wollten, das Alte nicht mehr und doch nichts Neues. Dazu waren die letz¬
ten zwölf Monate überaus reich an Illustrationen zu dem verworfenen Ent¬
wurf ; immer neue Fälle von Zopf oder Skandal traten ins Licht der Oeffent-


wie unzugänglich blieben; von dem Augenblicke an, wo derselbe vom Natio¬
nalrath durchberathen war und nun an den Ständerath gelangte, verlor es
den Faden durch die neuen Anträge hindurch völlig, und während nun der¬
selbe Artikel zwei-, drei-, viermal wie ein Federball zwischen den beiden Räthen
hin- und her flog, ehe er seine endliche Redaktion erlangte, ward ihm ganz
wirr im Kopf und entfiel ihm jeder Muth, diese unergründlichen Verhand¬
lungen auch nur nachzulesen; wol darf behauptet werden, außer dem Kanz
ter und den damaligen Präsidenten der beiden Rathe giebt es selbst unter
denen, welche den Berathungen persönlich beigewohnt haben, nur sehr We¬
nige, welche über Entstehung und Geschichte der einzelnen Artikel genauen
Bescheid zu geben wußten. Unbedingt müssen künftig Verhandlungen, über
deren Ergebnisse der Entscheid beim Volke steht, viel durchsichtiger gehalten
werden; schon aus diesem äußern Grund wird ein später mit Gewißheit ein¬
tretendes Bundesreferendum unserm Zweikammersystem ein Ende machen.
Daß statt gruppenweise über die einzelnen Materien über den ganzen Ent¬
wurf zusammen abgestimmt wurde, dafür läßt sich viel und schlagendes
sagen : immerhin empfand ein nicht ganz kleiner Theil unseres Volkes diese
Abstimmungsweise als eine Vergewaltigung. Noch mehr aber das Drängen
und Hasten mit dem Entscheid, ehe es, mitten in seinen Frühlingsarbeiten,
Zeit gefunden, sich mit dem Gegenstand vertraut zu machen, ehe da
Jeder den Entwurf gelesen, fremden Rath darüber genommen und jenen
dann noch ein zweites Mal für sich geprüft hatte.

Daher kam, was kommen mußte. Uns erschien die Niederlage vom 12.
Mai stets als ein Sieg: unter solch ungünstigen Umständen eine an die
Mehrheit fast hinanragende Minderheit, eine so geschlossene Schaar von Freun¬
den des Neuen war mehr als ein verständiger Mensch erwarten durfte. Bald
nach dem Volksentscheid schlug denn auch die allgemeine Stimmung vollstän¬
dig um. Unverzagt erhoben die Besiegten vom 12. Mai aufs neue ihr
Haupt, entmuthigt und verdrossen schauten die Sieger unterwärts. „Viel¬
leicht ist doch besser, wir seien unterlegen, als daß wir den neuen Bund mit
ganz knapper Mehrheit hätten ins Leben setzen müssen ", sagten sich jene;
„hätten wir am 12. Mai doch lieber Ja gesagt, wer weiß was nachkommt,
Besseres jedenfalls nichts" — dachten diese. Aber auch die Sachlage selbst
hatte zu unsern Gunsten umgeschlagen Jetzt hatten wir das Feste, Sichere,
Bekannte in unserm Besitz, das war, kleinere Abänderungen vorbehalten,
der Entwurf vom 12. Mai, die Märtyrerkrone seiner Niederlage um sein
Haupt, und die Gegner tappten nun im Finstern und wußten nicht, was sie
wollten, das Alte nicht mehr und doch nichts Neues. Dazu waren die letz¬
ten zwölf Monate überaus reich an Illustrationen zu dem verworfenen Ent¬
wurf ; immer neue Fälle von Zopf oder Skandal traten ins Licht der Oeffent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/78>, abgerufen am 06.02.2025.