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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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des politischen Katechismus aller französischen Parteien. Sehr richtig bemerkt
Hillebrand, daß nicht die politischen Institutionen Frankreich an der Selbst¬
regierung hindern; es ist der Mangel an Pflichtbewußtsein, an Bürgerwerth,
und Uebermaß an Jndifferentismus. Unser Verfasser führt des Näheren
die Thatsache aus. daß die wahren Parteien des Landes von den in den po¬
litischen Bürgerschaften zur Erscheinung gelangenden Fraktionen wesentlich
verschieden sind, daß also z. B. ein Majoritätsbeschluß der Versailler Natio¬
nalversammlung sich keineswegs immer auf die wahre Majorität des Volkes
stützen kann. Allein, was nützt diese wahre Majorität, wenn sie in steriler
Passivität verharrt? Sie wird immer das von einer rührigen Minorität
vollzogene ka.it aceomM acceptiren müssen; nur in äußerst seltenen Fällen
wird sie eine Remedur durchsetzen. Die wenigen Politiker xg.r <zxe<zi!"nec;
sind es, welche die "Krisen" zu Gunsten ihrer Parteizwecke geradezu provo¬
ciren. Haupthülfsmittel dieser Provocation ist die Pariser Presse. Denn sie
betrachtet es nicht als ihre Aufgabe, das Publikum wahrheitsgetreu aufzu¬
klären, sondern "gleichviel mit welchen Mitteln, öffentliche Meinung zu
machen". Man weiß, wie leicht und mit welch unheilvollen Folgen zuweilen
ihr das zu gelingen Pflegt.

In einem letzten Abschnitte betrachtet Hillebrand die Herrscher. Voll¬
kommen stimmen wir seiner Ansicht bei, daß das französische Volk, als es
am 10. December 1848 den abenteuernden Bonaparte zum Präsidenten der
Republik ernannte, dabei keine andere Absicht haben konnte, als die Wieder¬
aufrichtung der cäsarischen Monarchie. Darin liegt die beste Entschuldigung,
wenn auch nicht die vollständige Rechtfertigung für den 2. December 1831.
Treffend zeichnet unser Verfasser Louis Napoleon's complicirten Charakter und
betont als die starke Seite des Kaisers, daß seine Ideen und seine Hand¬
lungsweise durchaus der Mittelmäßigkeit der französischen Nation entsprachen.
Auch das erkennen wir an, daß Napoleon III. mehr als eine That aufzu¬
weisen hat, für welche nicht Frankreich allein, sondern die Welt ihm. Dank
schuldet. Wenn aber unter diesen Thaten, wegen deren er als "Wohlthäter
Europas geehrt zu werden" verdient, die "Vertheidigung des katholischen
Europas gegen den immer drohenderen Jesuitismus" aufgezählt wird, so
dürfte das doch sehr cum gi-ano salis zu verstehen sein. Mit vollem Recht
dagegen macht Hillebrand darauf aufmerksam, daß zu der wachsenden Unpo-
pularität, welche seit der mexikanischen Katastrophe und schneller noch nach
Sadowa über den Kaiser hereinbrach, zum guten Theile der Groll der Fran¬
zosen beigetragen, daß er den berechtigten Bestrebungen anderer Völker Sym¬
pathie erwiesen hatte. Als Hauptmoment seines Sturzes führt unser Ver¬
fasser die Einführung des parlamentarischen Systems an. Allein wir zwei¬
feln doch sehr an der Aufrichtigkeit dieses Parlamentarismus; uns hat das


des politischen Katechismus aller französischen Parteien. Sehr richtig bemerkt
Hillebrand, daß nicht die politischen Institutionen Frankreich an der Selbst¬
regierung hindern; es ist der Mangel an Pflichtbewußtsein, an Bürgerwerth,
und Uebermaß an Jndifferentismus. Unser Verfasser führt des Näheren
die Thatsache aus. daß die wahren Parteien des Landes von den in den po¬
litischen Bürgerschaften zur Erscheinung gelangenden Fraktionen wesentlich
verschieden sind, daß also z. B. ein Majoritätsbeschluß der Versailler Natio¬
nalversammlung sich keineswegs immer auf die wahre Majorität des Volkes
stützen kann. Allein, was nützt diese wahre Majorität, wenn sie in steriler
Passivität verharrt? Sie wird immer das von einer rührigen Minorität
vollzogene ka.it aceomM acceptiren müssen; nur in äußerst seltenen Fällen
wird sie eine Remedur durchsetzen. Die wenigen Politiker xg.r <zxe<zi!«nec;
sind es, welche die „Krisen" zu Gunsten ihrer Parteizwecke geradezu provo¬
ciren. Haupthülfsmittel dieser Provocation ist die Pariser Presse. Denn sie
betrachtet es nicht als ihre Aufgabe, das Publikum wahrheitsgetreu aufzu¬
klären, sondern „gleichviel mit welchen Mitteln, öffentliche Meinung zu
machen". Man weiß, wie leicht und mit welch unheilvollen Folgen zuweilen
ihr das zu gelingen Pflegt.

In einem letzten Abschnitte betrachtet Hillebrand die Herrscher. Voll¬
kommen stimmen wir seiner Ansicht bei, daß das französische Volk, als es
am 10. December 1848 den abenteuernden Bonaparte zum Präsidenten der
Republik ernannte, dabei keine andere Absicht haben konnte, als die Wieder¬
aufrichtung der cäsarischen Monarchie. Darin liegt die beste Entschuldigung,
wenn auch nicht die vollständige Rechtfertigung für den 2. December 1831.
Treffend zeichnet unser Verfasser Louis Napoleon's complicirten Charakter und
betont als die starke Seite des Kaisers, daß seine Ideen und seine Hand¬
lungsweise durchaus der Mittelmäßigkeit der französischen Nation entsprachen.
Auch das erkennen wir an, daß Napoleon III. mehr als eine That aufzu¬
weisen hat, für welche nicht Frankreich allein, sondern die Welt ihm. Dank
schuldet. Wenn aber unter diesen Thaten, wegen deren er als „Wohlthäter
Europas geehrt zu werden" verdient, die „Vertheidigung des katholischen
Europas gegen den immer drohenderen Jesuitismus" aufgezählt wird, so
dürfte das doch sehr cum gi-ano salis zu verstehen sein. Mit vollem Recht
dagegen macht Hillebrand darauf aufmerksam, daß zu der wachsenden Unpo-
pularität, welche seit der mexikanischen Katastrophe und schneller noch nach
Sadowa über den Kaiser hereinbrach, zum guten Theile der Groll der Fran¬
zosen beigetragen, daß er den berechtigten Bestrebungen anderer Völker Sym¬
pathie erwiesen hatte. Als Hauptmoment seines Sturzes führt unser Ver¬
fasser die Einführung des parlamentarischen Systems an. Allein wir zwei¬
feln doch sehr an der Aufrichtigkeit dieses Parlamentarismus; uns hat das


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[0062] des politischen Katechismus aller französischen Parteien. Sehr richtig bemerkt Hillebrand, daß nicht die politischen Institutionen Frankreich an der Selbst¬ regierung hindern; es ist der Mangel an Pflichtbewußtsein, an Bürgerwerth, und Uebermaß an Jndifferentismus. Unser Verfasser führt des Näheren die Thatsache aus. daß die wahren Parteien des Landes von den in den po¬ litischen Bürgerschaften zur Erscheinung gelangenden Fraktionen wesentlich verschieden sind, daß also z. B. ein Majoritätsbeschluß der Versailler Natio¬ nalversammlung sich keineswegs immer auf die wahre Majorität des Volkes stützen kann. Allein, was nützt diese wahre Majorität, wenn sie in steriler Passivität verharrt? Sie wird immer das von einer rührigen Minorität vollzogene ka.it aceomM acceptiren müssen; nur in äußerst seltenen Fällen wird sie eine Remedur durchsetzen. Die wenigen Politiker xg.r <zxe<zi!«nec; sind es, welche die „Krisen" zu Gunsten ihrer Parteizwecke geradezu provo¬ ciren. Haupthülfsmittel dieser Provocation ist die Pariser Presse. Denn sie betrachtet es nicht als ihre Aufgabe, das Publikum wahrheitsgetreu aufzu¬ klären, sondern „gleichviel mit welchen Mitteln, öffentliche Meinung zu machen". Man weiß, wie leicht und mit welch unheilvollen Folgen zuweilen ihr das zu gelingen Pflegt. In einem letzten Abschnitte betrachtet Hillebrand die Herrscher. Voll¬ kommen stimmen wir seiner Ansicht bei, daß das französische Volk, als es am 10. December 1848 den abenteuernden Bonaparte zum Präsidenten der Republik ernannte, dabei keine andere Absicht haben konnte, als die Wieder¬ aufrichtung der cäsarischen Monarchie. Darin liegt die beste Entschuldigung, wenn auch nicht die vollständige Rechtfertigung für den 2. December 1831. Treffend zeichnet unser Verfasser Louis Napoleon's complicirten Charakter und betont als die starke Seite des Kaisers, daß seine Ideen und seine Hand¬ lungsweise durchaus der Mittelmäßigkeit der französischen Nation entsprachen. Auch das erkennen wir an, daß Napoleon III. mehr als eine That aufzu¬ weisen hat, für welche nicht Frankreich allein, sondern die Welt ihm. Dank schuldet. Wenn aber unter diesen Thaten, wegen deren er als „Wohlthäter Europas geehrt zu werden" verdient, die „Vertheidigung des katholischen Europas gegen den immer drohenderen Jesuitismus" aufgezählt wird, so dürfte das doch sehr cum gi-ano salis zu verstehen sein. Mit vollem Recht dagegen macht Hillebrand darauf aufmerksam, daß zu der wachsenden Unpo- pularität, welche seit der mexikanischen Katastrophe und schneller noch nach Sadowa über den Kaiser hereinbrach, zum guten Theile der Groll der Fran¬ zosen beigetragen, daß er den berechtigten Bestrebungen anderer Völker Sym¬ pathie erwiesen hatte. Als Hauptmoment seines Sturzes führt unser Ver¬ fasser die Einführung des parlamentarischen Systems an. Allein wir zwei¬ feln doch sehr an der Aufrichtigkeit dieses Parlamentarismus; uns hat das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/62>, abgerufen am 06.02.2025.