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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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in gewissem Grade dann unzweckmäßig sein, wenn die Principien entweder noch
bestritten sind oder doch der kurzen Formulirung. deren das Gesetz aus an¬
deren Gründen bedarf, sich nicht fügen wollen. Daran hat sich die neuere
Strafgesetzgebung, insbesondere das preußische und jetzt das deutsche Strafge¬
setzbuch vielfach gehalten, nachdem man sich von der Unrichtigkeit oder auch
Werthlosigkeit vieler in den älteren Gesetzbüchern vorkommenden Definitionen
überzeugt hatte. Dabei ist aber keineswegs die Meinung gewesen, als sollten
damit die Ergebnisse der Rechtswissenschaft, welche ja, insoweit sie auf histo¬
rischer Grundlage vorgeht, gerade das Volksbewußtsein in seinen ver¬
schiedenen Phasen uns vorführt, beseitigt und die Urtheiler frischweg an ihr
eigenes möglicher Weise sehr irregeleitetes Volks- oder Rechtsbewußtsein ledig¬
lich verwiesen werden.

Das Bolksbewußtsein der Laien ist daher keineswegs in der Art in der
Rechtspflege zu verwenden, daß dadurch die Kraft bestimmter Rechtsregeln all¬
gemein beseitigt werden sollte, sondern nur soweit, daß dadurch die Kraft der
Regeln, welche die Wissenschaft herausarbeitet, geprüft werde. Denn sind sie
richtig, so müssen sie schließlich auch dem Bolksbewußtsein, in dem ja ihre letz¬
ten Wurzeln ruhen, einleuchten, wenngleich es der Kunst und Wissenschaft
des Juristen in hohem Maaße bedürfen mag, um jene Regeln auf dieses
Volksbewußtsein wiederum zu reduciren. Zur selbständigen Ausbildung von
Regeln, unter denen die einzelnen Fälle zu subsumiren sind, dagegen ist der
Laie, sobald eine Rechtswissenschaft existirt, regelmäßig unfähig: die Probe
darüber ist leicht zu machen. Der Laie entscheidet den einzelnen Fall, wenn
er einfach befragt wird nach der Subsumtion desselben unter die allgemeinen
Regeln, nach seinem unmittelbaren Bewußtsein oft, selbst ohne vorherige Be¬
lehrung, richtig; aber in den Gründen, d. h. in den allgemeinen Regeln, von
denen jene nur eine specielle Anwendung sein soll, verliert er sich: er kann sie
nicht aufstellen, sondern nur annehmen oder verwerfen, ähnlich wie auch der
Laie ein Kunstwerk nur zu beurtheilen, nicht aber es selbst aufzubauen
vermag.

Daraus ergiebt sich von selbst, daß, wenn Laien- und Rechtsgelehrten-
Urtheil zusammen in einem Processe zur Verwendung kommen soll, beides in
einer gewissen Geschlossenheit einander gegenüber treten, mit einander verglichen
werden muß. Die Verwendung der Laien zur unmittelbaren Ausstellung der
Regel, unter welche der Fall subsumirt werden soll, macht die Regel, d. h.
das Recht unsicher und schädigt das Rechtsbewußtsein des Volkes leicht auf
das Tiefste, indem sie die Gefahr, verurtheilt zu werden, zu einer ganz un¬
berechenbaren macht und so die Grenze zwischen dem verbrecherischen und dem
ehrlichen Leben einreißt. Sollten wir wählen zwischen einer selbst einseitigen,
aber streng consequenten Rechtspflege lediglich vor Juristen und einer wohl-


in gewissem Grade dann unzweckmäßig sein, wenn die Principien entweder noch
bestritten sind oder doch der kurzen Formulirung. deren das Gesetz aus an¬
deren Gründen bedarf, sich nicht fügen wollen. Daran hat sich die neuere
Strafgesetzgebung, insbesondere das preußische und jetzt das deutsche Strafge¬
setzbuch vielfach gehalten, nachdem man sich von der Unrichtigkeit oder auch
Werthlosigkeit vieler in den älteren Gesetzbüchern vorkommenden Definitionen
überzeugt hatte. Dabei ist aber keineswegs die Meinung gewesen, als sollten
damit die Ergebnisse der Rechtswissenschaft, welche ja, insoweit sie auf histo¬
rischer Grundlage vorgeht, gerade das Volksbewußtsein in seinen ver¬
schiedenen Phasen uns vorführt, beseitigt und die Urtheiler frischweg an ihr
eigenes möglicher Weise sehr irregeleitetes Volks- oder Rechtsbewußtsein ledig¬
lich verwiesen werden.

Das Bolksbewußtsein der Laien ist daher keineswegs in der Art in der
Rechtspflege zu verwenden, daß dadurch die Kraft bestimmter Rechtsregeln all¬
gemein beseitigt werden sollte, sondern nur soweit, daß dadurch die Kraft der
Regeln, welche die Wissenschaft herausarbeitet, geprüft werde. Denn sind sie
richtig, so müssen sie schließlich auch dem Bolksbewußtsein, in dem ja ihre letz¬
ten Wurzeln ruhen, einleuchten, wenngleich es der Kunst und Wissenschaft
des Juristen in hohem Maaße bedürfen mag, um jene Regeln auf dieses
Volksbewußtsein wiederum zu reduciren. Zur selbständigen Ausbildung von
Regeln, unter denen die einzelnen Fälle zu subsumiren sind, dagegen ist der
Laie, sobald eine Rechtswissenschaft existirt, regelmäßig unfähig: die Probe
darüber ist leicht zu machen. Der Laie entscheidet den einzelnen Fall, wenn
er einfach befragt wird nach der Subsumtion desselben unter die allgemeinen
Regeln, nach seinem unmittelbaren Bewußtsein oft, selbst ohne vorherige Be¬
lehrung, richtig; aber in den Gründen, d. h. in den allgemeinen Regeln, von
denen jene nur eine specielle Anwendung sein soll, verliert er sich: er kann sie
nicht aufstellen, sondern nur annehmen oder verwerfen, ähnlich wie auch der
Laie ein Kunstwerk nur zu beurtheilen, nicht aber es selbst aufzubauen
vermag.

Daraus ergiebt sich von selbst, daß, wenn Laien- und Rechtsgelehrten-
Urtheil zusammen in einem Processe zur Verwendung kommen soll, beides in
einer gewissen Geschlossenheit einander gegenüber treten, mit einander verglichen
werden muß. Die Verwendung der Laien zur unmittelbaren Ausstellung der
Regel, unter welche der Fall subsumirt werden soll, macht die Regel, d. h.
das Recht unsicher und schädigt das Rechtsbewußtsein des Volkes leicht auf
das Tiefste, indem sie die Gefahr, verurtheilt zu werden, zu einer ganz un¬
berechenbaren macht und so die Grenze zwischen dem verbrecherischen und dem
ehrlichen Leben einreißt. Sollten wir wählen zwischen einer selbst einseitigen,
aber streng consequenten Rechtspflege lediglich vor Juristen und einer wohl-


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[0054] in gewissem Grade dann unzweckmäßig sein, wenn die Principien entweder noch bestritten sind oder doch der kurzen Formulirung. deren das Gesetz aus an¬ deren Gründen bedarf, sich nicht fügen wollen. Daran hat sich die neuere Strafgesetzgebung, insbesondere das preußische und jetzt das deutsche Strafge¬ setzbuch vielfach gehalten, nachdem man sich von der Unrichtigkeit oder auch Werthlosigkeit vieler in den älteren Gesetzbüchern vorkommenden Definitionen überzeugt hatte. Dabei ist aber keineswegs die Meinung gewesen, als sollten damit die Ergebnisse der Rechtswissenschaft, welche ja, insoweit sie auf histo¬ rischer Grundlage vorgeht, gerade das Volksbewußtsein in seinen ver¬ schiedenen Phasen uns vorführt, beseitigt und die Urtheiler frischweg an ihr eigenes möglicher Weise sehr irregeleitetes Volks- oder Rechtsbewußtsein ledig¬ lich verwiesen werden. Das Bolksbewußtsein der Laien ist daher keineswegs in der Art in der Rechtspflege zu verwenden, daß dadurch die Kraft bestimmter Rechtsregeln all¬ gemein beseitigt werden sollte, sondern nur soweit, daß dadurch die Kraft der Regeln, welche die Wissenschaft herausarbeitet, geprüft werde. Denn sind sie richtig, so müssen sie schließlich auch dem Bolksbewußtsein, in dem ja ihre letz¬ ten Wurzeln ruhen, einleuchten, wenngleich es der Kunst und Wissenschaft des Juristen in hohem Maaße bedürfen mag, um jene Regeln auf dieses Volksbewußtsein wiederum zu reduciren. Zur selbständigen Ausbildung von Regeln, unter denen die einzelnen Fälle zu subsumiren sind, dagegen ist der Laie, sobald eine Rechtswissenschaft existirt, regelmäßig unfähig: die Probe darüber ist leicht zu machen. Der Laie entscheidet den einzelnen Fall, wenn er einfach befragt wird nach der Subsumtion desselben unter die allgemeinen Regeln, nach seinem unmittelbaren Bewußtsein oft, selbst ohne vorherige Be¬ lehrung, richtig; aber in den Gründen, d. h. in den allgemeinen Regeln, von denen jene nur eine specielle Anwendung sein soll, verliert er sich: er kann sie nicht aufstellen, sondern nur annehmen oder verwerfen, ähnlich wie auch der Laie ein Kunstwerk nur zu beurtheilen, nicht aber es selbst aufzubauen vermag. Daraus ergiebt sich von selbst, daß, wenn Laien- und Rechtsgelehrten- Urtheil zusammen in einem Processe zur Verwendung kommen soll, beides in einer gewissen Geschlossenheit einander gegenüber treten, mit einander verglichen werden muß. Die Verwendung der Laien zur unmittelbaren Ausstellung der Regel, unter welche der Fall subsumirt werden soll, macht die Regel, d. h. das Recht unsicher und schädigt das Rechtsbewußtsein des Volkes leicht auf das Tiefste, indem sie die Gefahr, verurtheilt zu werden, zu einer ganz un¬ berechenbaren macht und so die Grenze zwischen dem verbrecherischen und dem ehrlichen Leben einreißt. Sollten wir wählen zwischen einer selbst einseitigen, aber streng consequenten Rechtspflege lediglich vor Juristen und einer wohl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/54>, abgerufen am 06.02.2025.