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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Schöffengericht als Empfehlung benutzten, geht man jetzt dazu über, die neue
Erfindung auch historisch-philosophisch zu rechtfertigen. Lehrreich in dieser
Beziehung ist gleichfalls der bereits citirte Artikel der Nationalzeitung.

"Im Anfange", sagt der Verfasser des Artikels, "werden die sittlichen
Verhältnisse nur nach der Empfindung des einzelnen Falles beurtheilt. So¬
bald der größere Reichthum des Lebens diese Art der Entscheidung von Fragen,
welche das ganze Volk angehen, nicht mehr zuläßt, fängt man an, auf Regeln
zu sinnen und an die gefundenen Grundsätze die Funetionäre (Richter) ängst¬
lich zu binden. Die dritte höchste Stufe ist dann, wenn das Volksbewußtsein mit
den allgemeinen Grundsätzen getränkt, gleichwohl aber die Erkenntniß lebendig
ist, daß die Grundsätze die einzelnen Fälle nicht nach allen Beziehungen er¬
schöpfen. Dann erhalten die Funetionäre wieder eine größere Freiheit, weil
man weiß, daß sie die nothwendigen allgemeinen Regeln als Erwerb der
Bildung in sich tragen, und daß sie unter der Einwirkung des öffentlichen
Bewußtseins stehen, welches dieselben Regeln in sich trägt."

Gewiß ist es nun richtig daß es im Anfange der geschichtlichen Entwick¬
lung noch kein ausgebildetes Recht gibt, auf das Rechtsbewußtsein zur Ent¬
scheidung der einzelnen Fälle unmittelbar gegriffen werden muß. Dies ist
auf den Anfangsstufen der Culturentwicklung aber auch weniger gefährlich!
denn einerseits sind die Verhältnisse weit einfacher, und andererseits ist auch
das geistige Auge für die Wahrnehmung der Verschiedenheiten der einzelnen
Fälle weit weniger geschärft, und wenn früher die deutschen Volksgenossen
über den Volksgenossen urtheilten, so mußten sie stets gewärtig sein, daß ein¬
mal der gleiche Rechtssatz aus sie selbst angewendet werden könne, während
h. z. T. die Verschiedenheit der socialen Stellungen es häufig dem Urtheiler
als eine factische Unmöglichkeit erscheinen läßt, daß er jemals den Platz des
Angeklagten auf der Bank vor ihm einnehmen könnte. Sehr richtig ist es
ferner auch, daß wo nicht das Volk einem vollständigen Despotismus anheim¬
fällt, allmählig bestimmte Regeln sich bilden, an welche die Urtheiler gehult"
den werden. Falsch aber ist die Ansicht, daß diese Bildung immer specieller
werdender Regeln, die andererseits von der Wissenschaft des Rechts nun zur
Bildung umfassender Principien benutzt werden, jemals aufhören, der anfäng¬
liche Urzustand anders als mit einem völligen Rückgange der Cultur wieder¬
hergestellt werden könne. Dies würde auf der einen Seite den Untergang
der Rechtswissenschaft, auf der andern die vollständigste Rechtsunsicherheit Aller
bedeuten.

In der erwähnten zunächst blendenden Deduction verwechselt der Ver¬
fasser, der in der Folge auch der Debatten über das norddeutsche, nunmehr
deutsche Strafgesetzbuch gedenkt, die Principien des Rechtes selbst und ihre Aus¬
bildung mit ihrer Aufnahme in ein Gesetzbuch. Diese letztere Ausnahme kann.


Schöffengericht als Empfehlung benutzten, geht man jetzt dazu über, die neue
Erfindung auch historisch-philosophisch zu rechtfertigen. Lehrreich in dieser
Beziehung ist gleichfalls der bereits citirte Artikel der Nationalzeitung.

„Im Anfange", sagt der Verfasser des Artikels, „werden die sittlichen
Verhältnisse nur nach der Empfindung des einzelnen Falles beurtheilt. So¬
bald der größere Reichthum des Lebens diese Art der Entscheidung von Fragen,
welche das ganze Volk angehen, nicht mehr zuläßt, fängt man an, auf Regeln
zu sinnen und an die gefundenen Grundsätze die Funetionäre (Richter) ängst¬
lich zu binden. Die dritte höchste Stufe ist dann, wenn das Volksbewußtsein mit
den allgemeinen Grundsätzen getränkt, gleichwohl aber die Erkenntniß lebendig
ist, daß die Grundsätze die einzelnen Fälle nicht nach allen Beziehungen er¬
schöpfen. Dann erhalten die Funetionäre wieder eine größere Freiheit, weil
man weiß, daß sie die nothwendigen allgemeinen Regeln als Erwerb der
Bildung in sich tragen, und daß sie unter der Einwirkung des öffentlichen
Bewußtseins stehen, welches dieselben Regeln in sich trägt."

Gewiß ist es nun richtig daß es im Anfange der geschichtlichen Entwick¬
lung noch kein ausgebildetes Recht gibt, auf das Rechtsbewußtsein zur Ent¬
scheidung der einzelnen Fälle unmittelbar gegriffen werden muß. Dies ist
auf den Anfangsstufen der Culturentwicklung aber auch weniger gefährlich!
denn einerseits sind die Verhältnisse weit einfacher, und andererseits ist auch
das geistige Auge für die Wahrnehmung der Verschiedenheiten der einzelnen
Fälle weit weniger geschärft, und wenn früher die deutschen Volksgenossen
über den Volksgenossen urtheilten, so mußten sie stets gewärtig sein, daß ein¬
mal der gleiche Rechtssatz aus sie selbst angewendet werden könne, während
h. z. T. die Verschiedenheit der socialen Stellungen es häufig dem Urtheiler
als eine factische Unmöglichkeit erscheinen läßt, daß er jemals den Platz des
Angeklagten auf der Bank vor ihm einnehmen könnte. Sehr richtig ist es
ferner auch, daß wo nicht das Volk einem vollständigen Despotismus anheim¬
fällt, allmählig bestimmte Regeln sich bilden, an welche die Urtheiler gehult«
den werden. Falsch aber ist die Ansicht, daß diese Bildung immer specieller
werdender Regeln, die andererseits von der Wissenschaft des Rechts nun zur
Bildung umfassender Principien benutzt werden, jemals aufhören, der anfäng¬
liche Urzustand anders als mit einem völligen Rückgange der Cultur wieder¬
hergestellt werden könne. Dies würde auf der einen Seite den Untergang
der Rechtswissenschaft, auf der andern die vollständigste Rechtsunsicherheit Aller
bedeuten.

In der erwähnten zunächst blendenden Deduction verwechselt der Ver¬
fasser, der in der Folge auch der Debatten über das norddeutsche, nunmehr
deutsche Strafgesetzbuch gedenkt, die Principien des Rechtes selbst und ihre Aus¬
bildung mit ihrer Aufnahme in ein Gesetzbuch. Diese letztere Ausnahme kann.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/53>, abgerufen am 06.02.2025.