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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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zelnen Fällen führen können, wo die nach der Proceßordnung zulässi¬
gen Mittel den Dienst versagen. Die Vertheidigung einer formlosen Justiz,
welche darauf sich lediglich stützt, dahin einzelnen Fällen die formelle
Justiz zu unrichtigen Ergebnissen geführt habe, ist daher von vornherein als
trügerisch zu bezeichnen, umsomehr als es im einzelnen Falle sehr leicht ist,
die Unrichtigkeit eines Urtheils auf oberflächliche Gründe hin zu behaupten,
sehr schwer dagegen, sie wirklich zu beweisen. Die Argumentation muß viel¬
mehr, soll sie haltbar sein, aus allgemeinen Sätzen beweisen, daß wahrschein¬
lich, oder präsumtiv die formlose Justiz mehr Fehlgriffe thun, als die mit be¬
stimmten Formen umgebene, und diese Forderung der Beweisführung ist um
so berechtigter, als alle von Menschen geübte Justiz das Ideal wirklich voll¬
kommener Gerechtigkeit auch dann nicht zu erreichen im Stande sein würde,
wenn sie selbst einem Irrthum bezüglich der Thatsachen nicht ausgesetzt wäre.
Stets muß die Justiz an bestimmte mehr greifbare Dinge sich halten, wenn
sie nicht zur äußersten Tyrannei und Willkür ausarten soll. Nicht nur kann
sie nie zum eigentlichen Richter des Gewissens oder der Moralität sich auf¬
werfen : nicht einmal der im einzelnen Falle vielleicht nachweisbar angerichtete
äußere Schaden kann ihr überall maßgebend sein. Eine Handlung kann viel
verwerflicher vom moralischen Standpunkte erscheinen, als eine andere; eine
Handlung kann einen bedeutend größern Schaden verursachen, als eine andere:
dennoch geht jene straffrei aus, während diese der Strafjustiz anheimfällt,
und dies aus dem Grunde, weil es in erstem Falle an hinreichend festen Kri¬
terien fehlt, die Handlung von anderen Handlungen zu scheiden, welche der
Gesetzgeber nothgedrungen straflos lassen muß. Gerade unsere Zeit hat in
dieser Beziehung neuerdings lehrreiche Beispiele geliefert. Manche auf die
Leichtgläubigkeit und den Leichtsinn des Publikums berechnete "Gründungen",
manche von geschickten "Börsianern" vorgenommenen Manipulationen sind
vom moralischen Standpunkte aus als höchst verwerflich zu bezeichnen, weit
verwerflicher als z. B. gewöhnliche betrügliche Fälschungen von Nahrungs¬
mitteln und sie stiften auch einen weit größeren Schaden als diese. Dennoch
kann die Justiz nur diese, nicht aber jene strafen, weil die Konsequenz dann
dazu führen würde, dem Handel unerträgliche Fesseln anzulegen, weil sonst
Jeder der überhaupt speculirt, gewagte Unternehmungen beginnt, auf das Ge¬
fängniß oder doch die Verwicklung in eine seine Ehre und bürgerliche Stel¬
lung tief schädigende Criminaluntersuchung sich gefaßt machen müßte.

' Gerade diesen Punkt muß man Denjenigen gegenüber geltend machen,
welche von einem scheinbar idealen, aber weder praktisch noch historisch und
philosophisch haltbaren Standpunkte aus die Schöffengerichte als dasjenige
Institut verehren, in welchen vermöge eines ungehinderten formlosen Zu
sammenwirkens von rechtsgelehrten Richtern und Männern aus dem Volke


zelnen Fällen führen können, wo die nach der Proceßordnung zulässi¬
gen Mittel den Dienst versagen. Die Vertheidigung einer formlosen Justiz,
welche darauf sich lediglich stützt, dahin einzelnen Fällen die formelle
Justiz zu unrichtigen Ergebnissen geführt habe, ist daher von vornherein als
trügerisch zu bezeichnen, umsomehr als es im einzelnen Falle sehr leicht ist,
die Unrichtigkeit eines Urtheils auf oberflächliche Gründe hin zu behaupten,
sehr schwer dagegen, sie wirklich zu beweisen. Die Argumentation muß viel¬
mehr, soll sie haltbar sein, aus allgemeinen Sätzen beweisen, daß wahrschein¬
lich, oder präsumtiv die formlose Justiz mehr Fehlgriffe thun, als die mit be¬
stimmten Formen umgebene, und diese Forderung der Beweisführung ist um
so berechtigter, als alle von Menschen geübte Justiz das Ideal wirklich voll¬
kommener Gerechtigkeit auch dann nicht zu erreichen im Stande sein würde,
wenn sie selbst einem Irrthum bezüglich der Thatsachen nicht ausgesetzt wäre.
Stets muß die Justiz an bestimmte mehr greifbare Dinge sich halten, wenn
sie nicht zur äußersten Tyrannei und Willkür ausarten soll. Nicht nur kann
sie nie zum eigentlichen Richter des Gewissens oder der Moralität sich auf¬
werfen : nicht einmal der im einzelnen Falle vielleicht nachweisbar angerichtete
äußere Schaden kann ihr überall maßgebend sein. Eine Handlung kann viel
verwerflicher vom moralischen Standpunkte erscheinen, als eine andere; eine
Handlung kann einen bedeutend größern Schaden verursachen, als eine andere:
dennoch geht jene straffrei aus, während diese der Strafjustiz anheimfällt,
und dies aus dem Grunde, weil es in erstem Falle an hinreichend festen Kri¬
terien fehlt, die Handlung von anderen Handlungen zu scheiden, welche der
Gesetzgeber nothgedrungen straflos lassen muß. Gerade unsere Zeit hat in
dieser Beziehung neuerdings lehrreiche Beispiele geliefert. Manche auf die
Leichtgläubigkeit und den Leichtsinn des Publikums berechnete „Gründungen",
manche von geschickten „Börsianern" vorgenommenen Manipulationen sind
vom moralischen Standpunkte aus als höchst verwerflich zu bezeichnen, weit
verwerflicher als z. B. gewöhnliche betrügliche Fälschungen von Nahrungs¬
mitteln und sie stiften auch einen weit größeren Schaden als diese. Dennoch
kann die Justiz nur diese, nicht aber jene strafen, weil die Konsequenz dann
dazu führen würde, dem Handel unerträgliche Fesseln anzulegen, weil sonst
Jeder der überhaupt speculirt, gewagte Unternehmungen beginnt, auf das Ge¬
fängniß oder doch die Verwicklung in eine seine Ehre und bürgerliche Stel¬
lung tief schädigende Criminaluntersuchung sich gefaßt machen müßte.

' Gerade diesen Punkt muß man Denjenigen gegenüber geltend machen,
welche von einem scheinbar idealen, aber weder praktisch noch historisch und
philosophisch haltbaren Standpunkte aus die Schöffengerichte als dasjenige
Institut verehren, in welchen vermöge eines ungehinderten formlosen Zu
sammenwirkens von rechtsgelehrten Richtern und Männern aus dem Volke


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[0051] zelnen Fällen führen können, wo die nach der Proceßordnung zulässi¬ gen Mittel den Dienst versagen. Die Vertheidigung einer formlosen Justiz, welche darauf sich lediglich stützt, dahin einzelnen Fällen die formelle Justiz zu unrichtigen Ergebnissen geführt habe, ist daher von vornherein als trügerisch zu bezeichnen, umsomehr als es im einzelnen Falle sehr leicht ist, die Unrichtigkeit eines Urtheils auf oberflächliche Gründe hin zu behaupten, sehr schwer dagegen, sie wirklich zu beweisen. Die Argumentation muß viel¬ mehr, soll sie haltbar sein, aus allgemeinen Sätzen beweisen, daß wahrschein¬ lich, oder präsumtiv die formlose Justiz mehr Fehlgriffe thun, als die mit be¬ stimmten Formen umgebene, und diese Forderung der Beweisführung ist um so berechtigter, als alle von Menschen geübte Justiz das Ideal wirklich voll¬ kommener Gerechtigkeit auch dann nicht zu erreichen im Stande sein würde, wenn sie selbst einem Irrthum bezüglich der Thatsachen nicht ausgesetzt wäre. Stets muß die Justiz an bestimmte mehr greifbare Dinge sich halten, wenn sie nicht zur äußersten Tyrannei und Willkür ausarten soll. Nicht nur kann sie nie zum eigentlichen Richter des Gewissens oder der Moralität sich auf¬ werfen : nicht einmal der im einzelnen Falle vielleicht nachweisbar angerichtete äußere Schaden kann ihr überall maßgebend sein. Eine Handlung kann viel verwerflicher vom moralischen Standpunkte erscheinen, als eine andere; eine Handlung kann einen bedeutend größern Schaden verursachen, als eine andere: dennoch geht jene straffrei aus, während diese der Strafjustiz anheimfällt, und dies aus dem Grunde, weil es in erstem Falle an hinreichend festen Kri¬ terien fehlt, die Handlung von anderen Handlungen zu scheiden, welche der Gesetzgeber nothgedrungen straflos lassen muß. Gerade unsere Zeit hat in dieser Beziehung neuerdings lehrreiche Beispiele geliefert. Manche auf die Leichtgläubigkeit und den Leichtsinn des Publikums berechnete „Gründungen", manche von geschickten „Börsianern" vorgenommenen Manipulationen sind vom moralischen Standpunkte aus als höchst verwerflich zu bezeichnen, weit verwerflicher als z. B. gewöhnliche betrügliche Fälschungen von Nahrungs¬ mitteln und sie stiften auch einen weit größeren Schaden als diese. Dennoch kann die Justiz nur diese, nicht aber jene strafen, weil die Konsequenz dann dazu führen würde, dem Handel unerträgliche Fesseln anzulegen, weil sonst Jeder der überhaupt speculirt, gewagte Unternehmungen beginnt, auf das Ge¬ fängniß oder doch die Verwicklung in eine seine Ehre und bürgerliche Stel¬ lung tief schädigende Criminaluntersuchung sich gefaßt machen müßte. ' Gerade diesen Punkt muß man Denjenigen gegenüber geltend machen, welche von einem scheinbar idealen, aber weder praktisch noch historisch und philosophisch haltbaren Standpunkte aus die Schöffengerichte als dasjenige Institut verehren, in welchen vermöge eines ungehinderten formlosen Zu sammenwirkens von rechtsgelehrten Richtern und Männern aus dem Volke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/51>, abgerufen am 06.02.2025.