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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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fried erlahmen werde/weil dieser des Neides ledig, liebesfroh, an Brünnhildens,
der Wissenden Seite erlösende Wellenthal wirken werde. Seitdem kennt er,
so müssen wir annehmen, das Geschick, welches Hagen Siegfried und Brünn-
Hilden bereitet, auf beider menschliche Unwissenheit und Befangenheit bauend.
Im Vorspiel zu der Götterdämmerung hat Siegfried Brünnhilden gebeten,
ihm nicht zu zürnen, wenn ihre Runen, ihre Lehren ihn unbelehrt gelassen.
Ein Wissen genügt ihm, daß ihm Brünnhilde lebt; eine Lehre hat er ge¬
lernt, Brünnhildes zu gedenken. Brünnhilde ihrerseits hat sich mit dem
Geschenk der Runen von allem Wissen getrennt. Die Liebenden leben nur
in sich, und darum ereilt sie das Geschick. Wotan also, müssen wir anneh¬
men, wünscht nur noch, daß Siegfried und Brünnhilde des Ringes und des
an ihn gehefteten Fluches ledig werden, ohne daß Alberich den Ring wieder
gewinnt. Alle Mächte der Welt werden dann versuchen, durch List und Ge¬
walt aus ihren Schranken zu treten. Aber Siegfried, der unversehrbare Held
mit Wotans Schwert, wird sich behaupten und vielleicht die Welt neu in
Fugen bringen. Waldrande aber beschwört Brünnhilde um das Opfer des
Ringes, weil sie glaubt, dasselbe werde die Götter retten. Ist dies auch ein
Irrthum, so wird Brünnhildens Schuld an der Verweigerung der Bitte nicht
minder offenbar, die ihr den verderblichen Ring festhält. In Wahrheit
hat Waldrande nicht für Wotan, sondern für Brünnhilden bei Brünnhilden
gefleht.

Im zweiten Akt der Götterdämmerung kommt Siegfried zu Gutrune,
nachdem er in Günther verstellt, Brünnhilden vom Felsen geleitet, und unter¬
wegs die Stelle mit dem wirklichen Günther vertauscht hat. Die Mannen
der Giebichungen werden zum Fest entboten, Günthers und Siegfrieds Dop¬
pelhochzeit soll gefeiert werden. Günther naht mit Brünnhilden. Sie er¬
blickt den Ring an Siegfrieds Hand, es zeigt sich, daß nicht Günther, son¬
dern Siegfried ihr den Ring entriß. Nun häuft sie, Unbegreifliches erfahrend,
auf Siegfried den Vorwurf jeder Falschheit, den sie mit Recht für ihren Gat¬
ten erklärt. Er aber schwört sich frei, ohne die Giebichungen zu überzeugen.
Da naht sich Hagen Brünnhilden und verspricht ihre Schmach zu rächen. Sie
lehrt ihn, wo Siegfried verwundbar ist. Hagen eint zum verderblichen Bunde
die ungläubige Brünnhilde und den widerstrebenden Günther. So endet der
zweite Akt, dessen Schluß, wie es scheint, auf das musikalische Gebilde eines
Terzetts angelegt ist, welche Art dramatischer Ensemblestücke Wagner nur in
den seltensten Fällen zuläßt.

Im Anfang des dritten Aktes begegnet Siegfried den Rheintöchtern.
Hier hat der Dichter das großartige Motiv benutzt, das in der Edda, wie
im Nibelungenliede vorgebildet ist, daß die Warnung vor dem Schicksal nur
den Heldentrotz anfache. Die Rheintöchter begehren von Siegfried den ni-


fried erlahmen werde/weil dieser des Neides ledig, liebesfroh, an Brünnhildens,
der Wissenden Seite erlösende Wellenthal wirken werde. Seitdem kennt er,
so müssen wir annehmen, das Geschick, welches Hagen Siegfried und Brünn-
Hilden bereitet, auf beider menschliche Unwissenheit und Befangenheit bauend.
Im Vorspiel zu der Götterdämmerung hat Siegfried Brünnhilden gebeten,
ihm nicht zu zürnen, wenn ihre Runen, ihre Lehren ihn unbelehrt gelassen.
Ein Wissen genügt ihm, daß ihm Brünnhilde lebt; eine Lehre hat er ge¬
lernt, Brünnhildes zu gedenken. Brünnhilde ihrerseits hat sich mit dem
Geschenk der Runen von allem Wissen getrennt. Die Liebenden leben nur
in sich, und darum ereilt sie das Geschick. Wotan also, müssen wir anneh¬
men, wünscht nur noch, daß Siegfried und Brünnhilde des Ringes und des
an ihn gehefteten Fluches ledig werden, ohne daß Alberich den Ring wieder
gewinnt. Alle Mächte der Welt werden dann versuchen, durch List und Ge¬
walt aus ihren Schranken zu treten. Aber Siegfried, der unversehrbare Held
mit Wotans Schwert, wird sich behaupten und vielleicht die Welt neu in
Fugen bringen. Waldrande aber beschwört Brünnhilde um das Opfer des
Ringes, weil sie glaubt, dasselbe werde die Götter retten. Ist dies auch ein
Irrthum, so wird Brünnhildens Schuld an der Verweigerung der Bitte nicht
minder offenbar, die ihr den verderblichen Ring festhält. In Wahrheit
hat Waldrande nicht für Wotan, sondern für Brünnhilden bei Brünnhilden
gefleht.

Im zweiten Akt der Götterdämmerung kommt Siegfried zu Gutrune,
nachdem er in Günther verstellt, Brünnhilden vom Felsen geleitet, und unter¬
wegs die Stelle mit dem wirklichen Günther vertauscht hat. Die Mannen
der Giebichungen werden zum Fest entboten, Günthers und Siegfrieds Dop¬
pelhochzeit soll gefeiert werden. Günther naht mit Brünnhilden. Sie er¬
blickt den Ring an Siegfrieds Hand, es zeigt sich, daß nicht Günther, son¬
dern Siegfried ihr den Ring entriß. Nun häuft sie, Unbegreifliches erfahrend,
auf Siegfried den Vorwurf jeder Falschheit, den sie mit Recht für ihren Gat¬
ten erklärt. Er aber schwört sich frei, ohne die Giebichungen zu überzeugen.
Da naht sich Hagen Brünnhilden und verspricht ihre Schmach zu rächen. Sie
lehrt ihn, wo Siegfried verwundbar ist. Hagen eint zum verderblichen Bunde
die ungläubige Brünnhilde und den widerstrebenden Günther. So endet der
zweite Akt, dessen Schluß, wie es scheint, auf das musikalische Gebilde eines
Terzetts angelegt ist, welche Art dramatischer Ensemblestücke Wagner nur in
den seltensten Fällen zuläßt.

Im Anfang des dritten Aktes begegnet Siegfried den Rheintöchtern.
Hier hat der Dichter das großartige Motiv benutzt, das in der Edda, wie
im Nibelungenliede vorgebildet ist, daß die Warnung vor dem Schicksal nur
den Heldentrotz anfache. Die Rheintöchter begehren von Siegfried den ni-


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[0475] fried erlahmen werde/weil dieser des Neides ledig, liebesfroh, an Brünnhildens, der Wissenden Seite erlösende Wellenthal wirken werde. Seitdem kennt er, so müssen wir annehmen, das Geschick, welches Hagen Siegfried und Brünn- Hilden bereitet, auf beider menschliche Unwissenheit und Befangenheit bauend. Im Vorspiel zu der Götterdämmerung hat Siegfried Brünnhilden gebeten, ihm nicht zu zürnen, wenn ihre Runen, ihre Lehren ihn unbelehrt gelassen. Ein Wissen genügt ihm, daß ihm Brünnhilde lebt; eine Lehre hat er ge¬ lernt, Brünnhildes zu gedenken. Brünnhilde ihrerseits hat sich mit dem Geschenk der Runen von allem Wissen getrennt. Die Liebenden leben nur in sich, und darum ereilt sie das Geschick. Wotan also, müssen wir anneh¬ men, wünscht nur noch, daß Siegfried und Brünnhilde des Ringes und des an ihn gehefteten Fluches ledig werden, ohne daß Alberich den Ring wieder gewinnt. Alle Mächte der Welt werden dann versuchen, durch List und Ge¬ walt aus ihren Schranken zu treten. Aber Siegfried, der unversehrbare Held mit Wotans Schwert, wird sich behaupten und vielleicht die Welt neu in Fugen bringen. Waldrande aber beschwört Brünnhilde um das Opfer des Ringes, weil sie glaubt, dasselbe werde die Götter retten. Ist dies auch ein Irrthum, so wird Brünnhildens Schuld an der Verweigerung der Bitte nicht minder offenbar, die ihr den verderblichen Ring festhält. In Wahrheit hat Waldrande nicht für Wotan, sondern für Brünnhilden bei Brünnhilden gefleht. Im zweiten Akt der Götterdämmerung kommt Siegfried zu Gutrune, nachdem er in Günther verstellt, Brünnhilden vom Felsen geleitet, und unter¬ wegs die Stelle mit dem wirklichen Günther vertauscht hat. Die Mannen der Giebichungen werden zum Fest entboten, Günthers und Siegfrieds Dop¬ pelhochzeit soll gefeiert werden. Günther naht mit Brünnhilden. Sie er¬ blickt den Ring an Siegfrieds Hand, es zeigt sich, daß nicht Günther, son¬ dern Siegfried ihr den Ring entriß. Nun häuft sie, Unbegreifliches erfahrend, auf Siegfried den Vorwurf jeder Falschheit, den sie mit Recht für ihren Gat¬ ten erklärt. Er aber schwört sich frei, ohne die Giebichungen zu überzeugen. Da naht sich Hagen Brünnhilden und verspricht ihre Schmach zu rächen. Sie lehrt ihn, wo Siegfried verwundbar ist. Hagen eint zum verderblichen Bunde die ungläubige Brünnhilde und den widerstrebenden Günther. So endet der zweite Akt, dessen Schluß, wie es scheint, auf das musikalische Gebilde eines Terzetts angelegt ist, welche Art dramatischer Ensemblestücke Wagner nur in den seltensten Fällen zuläßt. Im Anfang des dritten Aktes begegnet Siegfried den Rheintöchtern. Hier hat der Dichter das großartige Motiv benutzt, das in der Edda, wie im Nibelungenliede vorgebildet ist, daß die Warnung vor dem Schicksal nur den Heldentrotz anfache. Die Rheintöchter begehren von Siegfried den ni-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/475>, abgerufen am 06.02.2025.