Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dert, die Wohnstätten der Menschen, um sich einen Sohn zu zeugen, der voll
der Gotteskraft, aber frei von dem die Götter bindenden Gesetz, sich unter¬
fange, den Drachen zu tödten und sich des Nheingoldes, sowie der Waffen zu
bemächtigen, des Ringes und des Tarnhelmes, die Alberich daraus hat ver¬
fertigen lassen. Es muß ergänzend angenommen werden, was die Dichtung
nicht ausspricht, daß Wotan hofft, durch den Helden, der sein Sohn, wenn
er sich ihm zu erkennen giebt, die allmächtigen Waffen überliefert zu erhalten.
Diese neuen Bewohner des Götterhimmels und der Menschenerde, die Wal¬
küren und die Kinder, die Wotan mit einem Menschenweibe erzeugt, unter
dem Namen "Waise" umherziehend, treten in dem zweiten Drama der Tetra¬
logie auf.

Die Erstgeborene der Walküren ist Brünnhilde, Wotans bevorzugtes
Kind, sie ist die Hauptgestalt des zweiten und der folgenden Dramen der
Tetralogie. Die Menschenkinder, die Wotan sich erzeugt, sind Siegmund und
Sieglinde, von ihrem Vater, der sich unter dem Namen Waise als Mensch
verborgen, Wälsungen genannt. Mit ihnen hebt die zweite Handlung des
Dramas an.

Sieglinde, als Vater und Bruder das Haus verlassen, von Feinden ge¬
raubt, während die Mutter erschlagen, wird von den Räubern einem rauhen
Häuptling verschachert, der sie sich zwar vermählt, aber sie dann in harten
Banden hält. Zu Sieglinde kommt Siegmund auf der Flucht. Er ist in
einem wilden Heldenleben an des Vaters Seite aufgewachsen, der ihm eines
Tages verschwunden ist und von ihm erschlagen geglaubt wird. Siegmunds
letzter Strauß war für ein "trauriges Kind", das ihre rauhe Sippe einem
Mann ohne Minne vermählen wollte. Siegmund hat gegen die Dränger ge-
kämpft, aber der Erschlagenen Sippen hetzten ihn endlich in die Flucht. Der
Mann, dessen Haus er auf der Flucht betreten, gehört zu den zur Rache auf¬
gerufenen Sippen. Für eine Nacht gewährt er Siegmund Gastfreundschaft,
aber für den nächsten Morgen fordert er ihn 'zum Kampf, nachdem Sieg¬
mund erzählt, wer er sei und gegen wen er gekämpft. Wie nun Sieglinde
ihn auf das Schwert aufmerksam macht, das Wotan-Waise einst in die Esche
gestoßen, um deren Stamm das Haus von Sieglindens Gatten aufgerichtet;
wie Siegmund sich erinnert, daß ihm der Vater einst in höchster Noth ein
Schwert verheißen: wie Sieglinde zu dem Fremdling zurückkehrt; wie dieser
das Schwert aus der Esche reißt und sich dadurch als den zu erkennen gibt,
für den es bestimmt; wie die Geschwister sich als Geschwister und zugleich
als Liebende erkennen: diese Züge der Wagner'sehen Dichtung sind neuerdings
oft hervorgehoben und nicht nur mit ihrem poetischen, sondern zum Theil
auch bereits mit ihrem musikalischen Inhalt in weitere Kreise gedrungen. So
lange Sinn und Verständniß sür Poesie nicht erloschen sind, muß dieser erste


dert, die Wohnstätten der Menschen, um sich einen Sohn zu zeugen, der voll
der Gotteskraft, aber frei von dem die Götter bindenden Gesetz, sich unter¬
fange, den Drachen zu tödten und sich des Nheingoldes, sowie der Waffen zu
bemächtigen, des Ringes und des Tarnhelmes, die Alberich daraus hat ver¬
fertigen lassen. Es muß ergänzend angenommen werden, was die Dichtung
nicht ausspricht, daß Wotan hofft, durch den Helden, der sein Sohn, wenn
er sich ihm zu erkennen giebt, die allmächtigen Waffen überliefert zu erhalten.
Diese neuen Bewohner des Götterhimmels und der Menschenerde, die Wal¬
küren und die Kinder, die Wotan mit einem Menschenweibe erzeugt, unter
dem Namen „Waise" umherziehend, treten in dem zweiten Drama der Tetra¬
logie auf.

Die Erstgeborene der Walküren ist Brünnhilde, Wotans bevorzugtes
Kind, sie ist die Hauptgestalt des zweiten und der folgenden Dramen der
Tetralogie. Die Menschenkinder, die Wotan sich erzeugt, sind Siegmund und
Sieglinde, von ihrem Vater, der sich unter dem Namen Waise als Mensch
verborgen, Wälsungen genannt. Mit ihnen hebt die zweite Handlung des
Dramas an.

Sieglinde, als Vater und Bruder das Haus verlassen, von Feinden ge¬
raubt, während die Mutter erschlagen, wird von den Räubern einem rauhen
Häuptling verschachert, der sie sich zwar vermählt, aber sie dann in harten
Banden hält. Zu Sieglinde kommt Siegmund auf der Flucht. Er ist in
einem wilden Heldenleben an des Vaters Seite aufgewachsen, der ihm eines
Tages verschwunden ist und von ihm erschlagen geglaubt wird. Siegmunds
letzter Strauß war für ein „trauriges Kind", das ihre rauhe Sippe einem
Mann ohne Minne vermählen wollte. Siegmund hat gegen die Dränger ge-
kämpft, aber der Erschlagenen Sippen hetzten ihn endlich in die Flucht. Der
Mann, dessen Haus er auf der Flucht betreten, gehört zu den zur Rache auf¬
gerufenen Sippen. Für eine Nacht gewährt er Siegmund Gastfreundschaft,
aber für den nächsten Morgen fordert er ihn 'zum Kampf, nachdem Sieg¬
mund erzählt, wer er sei und gegen wen er gekämpft. Wie nun Sieglinde
ihn auf das Schwert aufmerksam macht, das Wotan-Waise einst in die Esche
gestoßen, um deren Stamm das Haus von Sieglindens Gatten aufgerichtet;
wie Siegmund sich erinnert, daß ihm der Vater einst in höchster Noth ein
Schwert verheißen: wie Sieglinde zu dem Fremdling zurückkehrt; wie dieser
das Schwert aus der Esche reißt und sich dadurch als den zu erkennen gibt,
für den es bestimmt; wie die Geschwister sich als Geschwister und zugleich
als Liebende erkennen: diese Züge der Wagner'sehen Dichtung sind neuerdings
oft hervorgehoben und nicht nur mit ihrem poetischen, sondern zum Theil
auch bereits mit ihrem musikalischen Inhalt in weitere Kreise gedrungen. So
lange Sinn und Verständniß sür Poesie nicht erloschen sind, muß dieser erste


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0467" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193270"/>
            <p xml:id="ID_1555" prev="#ID_1554"> dert, die Wohnstätten der Menschen, um sich einen Sohn zu zeugen, der voll<lb/>
der Gotteskraft, aber frei von dem die Götter bindenden Gesetz, sich unter¬<lb/>
fange, den Drachen zu tödten und sich des Nheingoldes, sowie der Waffen zu<lb/>
bemächtigen, des Ringes und des Tarnhelmes, die Alberich daraus hat ver¬<lb/>
fertigen lassen. Es muß ergänzend angenommen werden, was die Dichtung<lb/>
nicht ausspricht, daß Wotan hofft, durch den Helden, der sein Sohn, wenn<lb/>
er sich ihm zu erkennen giebt, die allmächtigen Waffen überliefert zu erhalten.<lb/>
Diese neuen Bewohner des Götterhimmels und der Menschenerde, die Wal¬<lb/>
küren und die Kinder, die Wotan mit einem Menschenweibe erzeugt, unter<lb/>
dem Namen &#x201E;Waise" umherziehend, treten in dem zweiten Drama der Tetra¬<lb/>
logie auf.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1556"> Die Erstgeborene der Walküren ist Brünnhilde, Wotans bevorzugtes<lb/>
Kind, sie ist die Hauptgestalt des zweiten und der folgenden Dramen der<lb/>
Tetralogie. Die Menschenkinder, die Wotan sich erzeugt, sind Siegmund und<lb/>
Sieglinde, von ihrem Vater, der sich unter dem Namen Waise als Mensch<lb/>
verborgen, Wälsungen genannt. Mit ihnen hebt die zweite Handlung des<lb/>
Dramas an.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1557" next="#ID_1558"> Sieglinde, als Vater und Bruder das Haus verlassen, von Feinden ge¬<lb/>
raubt, während die Mutter erschlagen, wird von den Räubern einem rauhen<lb/>
Häuptling verschachert, der sie sich zwar vermählt, aber sie dann in harten<lb/>
Banden hält. Zu Sieglinde kommt Siegmund auf der Flucht. Er ist in<lb/>
einem wilden Heldenleben an des Vaters Seite aufgewachsen, der ihm eines<lb/>
Tages verschwunden ist und von ihm erschlagen geglaubt wird. Siegmunds<lb/>
letzter Strauß war für ein &#x201E;trauriges Kind", das ihre rauhe Sippe einem<lb/>
Mann ohne Minne vermählen wollte. Siegmund hat gegen die Dränger ge-<lb/>
kämpft, aber der Erschlagenen Sippen hetzten ihn endlich in die Flucht. Der<lb/>
Mann, dessen Haus er auf der Flucht betreten, gehört zu den zur Rache auf¬<lb/>
gerufenen Sippen. Für eine Nacht gewährt er Siegmund Gastfreundschaft,<lb/>
aber für den nächsten Morgen fordert er ihn 'zum Kampf, nachdem Sieg¬<lb/>
mund erzählt, wer er sei und gegen wen er gekämpft. Wie nun Sieglinde<lb/>
ihn auf das Schwert aufmerksam macht, das Wotan-Waise einst in die Esche<lb/>
gestoßen, um deren Stamm das Haus von Sieglindens Gatten aufgerichtet;<lb/>
wie Siegmund sich erinnert, daß ihm der Vater einst in höchster Noth ein<lb/>
Schwert verheißen: wie Sieglinde zu dem Fremdling zurückkehrt; wie dieser<lb/>
das Schwert aus der Esche reißt und sich dadurch als den zu erkennen gibt,<lb/>
für den es bestimmt; wie die Geschwister sich als Geschwister und zugleich<lb/>
als Liebende erkennen: diese Züge der Wagner'sehen Dichtung sind neuerdings<lb/>
oft hervorgehoben und nicht nur mit ihrem poetischen, sondern zum Theil<lb/>
auch bereits mit ihrem musikalischen Inhalt in weitere Kreise gedrungen. So<lb/>
lange Sinn und Verständniß sür Poesie nicht erloschen sind, muß dieser erste</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0467] dert, die Wohnstätten der Menschen, um sich einen Sohn zu zeugen, der voll der Gotteskraft, aber frei von dem die Götter bindenden Gesetz, sich unter¬ fange, den Drachen zu tödten und sich des Nheingoldes, sowie der Waffen zu bemächtigen, des Ringes und des Tarnhelmes, die Alberich daraus hat ver¬ fertigen lassen. Es muß ergänzend angenommen werden, was die Dichtung nicht ausspricht, daß Wotan hofft, durch den Helden, der sein Sohn, wenn er sich ihm zu erkennen giebt, die allmächtigen Waffen überliefert zu erhalten. Diese neuen Bewohner des Götterhimmels und der Menschenerde, die Wal¬ küren und die Kinder, die Wotan mit einem Menschenweibe erzeugt, unter dem Namen „Waise" umherziehend, treten in dem zweiten Drama der Tetra¬ logie auf. Die Erstgeborene der Walküren ist Brünnhilde, Wotans bevorzugtes Kind, sie ist die Hauptgestalt des zweiten und der folgenden Dramen der Tetralogie. Die Menschenkinder, die Wotan sich erzeugt, sind Siegmund und Sieglinde, von ihrem Vater, der sich unter dem Namen Waise als Mensch verborgen, Wälsungen genannt. Mit ihnen hebt die zweite Handlung des Dramas an. Sieglinde, als Vater und Bruder das Haus verlassen, von Feinden ge¬ raubt, während die Mutter erschlagen, wird von den Räubern einem rauhen Häuptling verschachert, der sie sich zwar vermählt, aber sie dann in harten Banden hält. Zu Sieglinde kommt Siegmund auf der Flucht. Er ist in einem wilden Heldenleben an des Vaters Seite aufgewachsen, der ihm eines Tages verschwunden ist und von ihm erschlagen geglaubt wird. Siegmunds letzter Strauß war für ein „trauriges Kind", das ihre rauhe Sippe einem Mann ohne Minne vermählen wollte. Siegmund hat gegen die Dränger ge- kämpft, aber der Erschlagenen Sippen hetzten ihn endlich in die Flucht. Der Mann, dessen Haus er auf der Flucht betreten, gehört zu den zur Rache auf¬ gerufenen Sippen. Für eine Nacht gewährt er Siegmund Gastfreundschaft, aber für den nächsten Morgen fordert er ihn 'zum Kampf, nachdem Sieg¬ mund erzählt, wer er sei und gegen wen er gekämpft. Wie nun Sieglinde ihn auf das Schwert aufmerksam macht, das Wotan-Waise einst in die Esche gestoßen, um deren Stamm das Haus von Sieglindens Gatten aufgerichtet; wie Siegmund sich erinnert, daß ihm der Vater einst in höchster Noth ein Schwert verheißen: wie Sieglinde zu dem Fremdling zurückkehrt; wie dieser das Schwert aus der Esche reißt und sich dadurch als den zu erkennen gibt, für den es bestimmt; wie die Geschwister sich als Geschwister und zugleich als Liebende erkennen: diese Züge der Wagner'sehen Dichtung sind neuerdings oft hervorgehoben und nicht nur mit ihrem poetischen, sondern zum Theil auch bereits mit ihrem musikalischen Inhalt in weitere Kreise gedrungen. So lange Sinn und Verständniß sür Poesie nicht erloschen sind, muß dieser erste

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/467
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/467>, abgerufen am 06.02.2025.