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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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wörtlich machen wollten? So lange zu den Auswanderern diejenigen einen großen
Beitrag liefern, welche mit den moralischen und socialen Gesetzen Europas zerfallen
sind, so lange kann es nicht erlaubt sein, den Werth europäischer Kirchen¬
politik nach dem sittlichen Werth der Auswanderer zu bestimmen. Wenn der
Verfasser uns dann Romanismus und Rationalismus als europäische nach
Amerika erst verpflanzte Afterbildungen zurechnet, so vergißt er, daß über¬
haupt das amerikanische Geistesleben im Großen und Ganzen aus der Kultur
Europas schöpft und an ihr sich sättigt. Amerika hat bis jetzt auf keinem
Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, der Kirche Erzeugnisse von klassischer
Originalität hervorgebracht. Es sitzt immer noch zu Gaste am Tische des
Kulturmutterlandes Europa. Diese Kultur bringt heilsame und schädliche
Früchte, und wenn Amerika beide aufnimmt und genießt, so beweist es nur,
daß sein Unterscheidungsvermögen fehlerhaft ist. ebenso wie das unsere. Ganz
arg ist es aber, wenn wir auch noch für den Mormonismus verantwortlich
gemacht werden, weil er sich fast lediglich aus dem nördlichen Europa recru-
tirt. Im christlichen Europa wäre für den Mormonismus keine Freistatt
geöffnet worden, er ist amerikanischen Ursprungs und trägt amerikanischen
Character; wenn er ihn auch karnkirt. Die Urbarmachung des Landes,
die Colonisation -- das sind die Aufgaben, die der Mormonismus sich ge¬
stellt und mit bewunderungswürdiger, echt amerikanischer Arbeitskraft und
Anstrengung gelöst hat. Und hätten die phantastischen Vorstellungen der
Mormonendogmatik in Europa eine Macht werden können, wo ein bestimm¬
ter religiös-sittlicher Jdeenkreis durch die Pädagogie der privilegirten Kirchen
den jugendlichen Seelen in Geist und Gemüth gepflanzt wird, bot ihm nicht
vielmehr Amerika die Möglichkeit des Entstehens und Bestehens, wo der soziale
Organismus soweit als möglich auf die Pflege der religiös-sittlichen Volksbil¬
dung verzichtet?

Es fällt uns nicht ein, auf das kirchenpolitische System der Vereinigten
Staaten einen Stein zu werfen und die moralischen Schatten des amerikani¬
schen Volkslebens davon abzuleiten, aber wir sind auch nicht gesonnen, es
als ein Ideal anzusehen, das wir uns anzueignen hätten, und die mora¬
lischen Schatten des christlichen Europa aus die Institution privilegirter Kir¬
chen zurück zu führen. Politik und Kirchenpolitik sind geschichtlich und zeitlich
bedingt. Die Vereinigten Staaten, welche Auswanderer aller Confessionen
in sich aufnehmen und auf sie angewiesen sind, können keine Confession be¬
vorzugen oder zurückstellen. Und der nationale Charakter, die ungehemmte
Bewegung fordernde Individualität, der dem Traditionellen abholde, Neues
zu Pflügen bereite Geist, die radikale das geschichtlich Gewordene auflösende
Tendenz, begünstigen das System der Freikirche. Dagegen wir Europäer
müßten erst tabula, rasa schaffen, um amerikanische Zustände hervor zu bringen.
Und keine geschichtliche Nothwendigkeit treibt uns dazu. Die Völker im


wörtlich machen wollten? So lange zu den Auswanderern diejenigen einen großen
Beitrag liefern, welche mit den moralischen und socialen Gesetzen Europas zerfallen
sind, so lange kann es nicht erlaubt sein, den Werth europäischer Kirchen¬
politik nach dem sittlichen Werth der Auswanderer zu bestimmen. Wenn der
Verfasser uns dann Romanismus und Rationalismus als europäische nach
Amerika erst verpflanzte Afterbildungen zurechnet, so vergißt er, daß über¬
haupt das amerikanische Geistesleben im Großen und Ganzen aus der Kultur
Europas schöpft und an ihr sich sättigt. Amerika hat bis jetzt auf keinem
Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, der Kirche Erzeugnisse von klassischer
Originalität hervorgebracht. Es sitzt immer noch zu Gaste am Tische des
Kulturmutterlandes Europa. Diese Kultur bringt heilsame und schädliche
Früchte, und wenn Amerika beide aufnimmt und genießt, so beweist es nur,
daß sein Unterscheidungsvermögen fehlerhaft ist. ebenso wie das unsere. Ganz
arg ist es aber, wenn wir auch noch für den Mormonismus verantwortlich
gemacht werden, weil er sich fast lediglich aus dem nördlichen Europa recru-
tirt. Im christlichen Europa wäre für den Mormonismus keine Freistatt
geöffnet worden, er ist amerikanischen Ursprungs und trägt amerikanischen
Character; wenn er ihn auch karnkirt. Die Urbarmachung des Landes,
die Colonisation — das sind die Aufgaben, die der Mormonismus sich ge¬
stellt und mit bewunderungswürdiger, echt amerikanischer Arbeitskraft und
Anstrengung gelöst hat. Und hätten die phantastischen Vorstellungen der
Mormonendogmatik in Europa eine Macht werden können, wo ein bestimm¬
ter religiös-sittlicher Jdeenkreis durch die Pädagogie der privilegirten Kirchen
den jugendlichen Seelen in Geist und Gemüth gepflanzt wird, bot ihm nicht
vielmehr Amerika die Möglichkeit des Entstehens und Bestehens, wo der soziale
Organismus soweit als möglich auf die Pflege der religiös-sittlichen Volksbil¬
dung verzichtet?

Es fällt uns nicht ein, auf das kirchenpolitische System der Vereinigten
Staaten einen Stein zu werfen und die moralischen Schatten des amerikani¬
schen Volkslebens davon abzuleiten, aber wir sind auch nicht gesonnen, es
als ein Ideal anzusehen, das wir uns anzueignen hätten, und die mora¬
lischen Schatten des christlichen Europa aus die Institution privilegirter Kir¬
chen zurück zu führen. Politik und Kirchenpolitik sind geschichtlich und zeitlich
bedingt. Die Vereinigten Staaten, welche Auswanderer aller Confessionen
in sich aufnehmen und auf sie angewiesen sind, können keine Confession be¬
vorzugen oder zurückstellen. Und der nationale Charakter, die ungehemmte
Bewegung fordernde Individualität, der dem Traditionellen abholde, Neues
zu Pflügen bereite Geist, die radikale das geschichtlich Gewordene auflösende
Tendenz, begünstigen das System der Freikirche. Dagegen wir Europäer
müßten erst tabula, rasa schaffen, um amerikanische Zustände hervor zu bringen.
Und keine geschichtliche Nothwendigkeit treibt uns dazu. Die Völker im


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[0460] wörtlich machen wollten? So lange zu den Auswanderern diejenigen einen großen Beitrag liefern, welche mit den moralischen und socialen Gesetzen Europas zerfallen sind, so lange kann es nicht erlaubt sein, den Werth europäischer Kirchen¬ politik nach dem sittlichen Werth der Auswanderer zu bestimmen. Wenn der Verfasser uns dann Romanismus und Rationalismus als europäische nach Amerika erst verpflanzte Afterbildungen zurechnet, so vergißt er, daß über¬ haupt das amerikanische Geistesleben im Großen und Ganzen aus der Kultur Europas schöpft und an ihr sich sättigt. Amerika hat bis jetzt auf keinem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, der Kirche Erzeugnisse von klassischer Originalität hervorgebracht. Es sitzt immer noch zu Gaste am Tische des Kulturmutterlandes Europa. Diese Kultur bringt heilsame und schädliche Früchte, und wenn Amerika beide aufnimmt und genießt, so beweist es nur, daß sein Unterscheidungsvermögen fehlerhaft ist. ebenso wie das unsere. Ganz arg ist es aber, wenn wir auch noch für den Mormonismus verantwortlich gemacht werden, weil er sich fast lediglich aus dem nördlichen Europa recru- tirt. Im christlichen Europa wäre für den Mormonismus keine Freistatt geöffnet worden, er ist amerikanischen Ursprungs und trägt amerikanischen Character; wenn er ihn auch karnkirt. Die Urbarmachung des Landes, die Colonisation — das sind die Aufgaben, die der Mormonismus sich ge¬ stellt und mit bewunderungswürdiger, echt amerikanischer Arbeitskraft und Anstrengung gelöst hat. Und hätten die phantastischen Vorstellungen der Mormonendogmatik in Europa eine Macht werden können, wo ein bestimm¬ ter religiös-sittlicher Jdeenkreis durch die Pädagogie der privilegirten Kirchen den jugendlichen Seelen in Geist und Gemüth gepflanzt wird, bot ihm nicht vielmehr Amerika die Möglichkeit des Entstehens und Bestehens, wo der soziale Organismus soweit als möglich auf die Pflege der religiös-sittlichen Volksbil¬ dung verzichtet? Es fällt uns nicht ein, auf das kirchenpolitische System der Vereinigten Staaten einen Stein zu werfen und die moralischen Schatten des amerikani¬ schen Volkslebens davon abzuleiten, aber wir sind auch nicht gesonnen, es als ein Ideal anzusehen, das wir uns anzueignen hätten, und die mora¬ lischen Schatten des christlichen Europa aus die Institution privilegirter Kir¬ chen zurück zu führen. Politik und Kirchenpolitik sind geschichtlich und zeitlich bedingt. Die Vereinigten Staaten, welche Auswanderer aller Confessionen in sich aufnehmen und auf sie angewiesen sind, können keine Confession be¬ vorzugen oder zurückstellen. Und der nationale Charakter, die ungehemmte Bewegung fordernde Individualität, der dem Traditionellen abholde, Neues zu Pflügen bereite Geist, die radikale das geschichtlich Gewordene auflösende Tendenz, begünstigen das System der Freikirche. Dagegen wir Europäer müßten erst tabula, rasa schaffen, um amerikanische Zustände hervor zu bringen. Und keine geschichtliche Nothwendigkeit treibt uns dazu. Die Völker im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/460>, abgerufen am 06.02.2025.