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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Da durch unser "liberales" Wahlgesetz von 1848 das Ruder des Staates
bei uns factisch in die Hand der Bauern (d. h. der Pastöre) gegeben worden
war, die Bauern somit das Land beherrschten, ohne auch nur einen Begriff
von den wirklichen Bedürfnissen desselben, von Gemeinwohl, von Bürgerrecht
und Bürgerpflicht zu besitzen, so läßt sich leicht denken, wie sich die Besseren,
die Gewissenhafteren, die wirklich Unabhängigeren, bei einer solchen Wirth¬
schaft befinden mußten. Sie, die sich nicht in dies selbstische und gemeine
Treiben mischen konnten und wollten, zogen sich von dem politischen Leben
mehr und mehr zurück. Die besten und edelsten Herzen im Lande begannen
am Heile, an der Zukunft desselben zu verzweifeln. Und wahrlich nicht ohne
Grund! -- Wer es nicht mit erlebt hat, kann sich gar keinen Begriff machen,
mit welcher Gemeinheit, mit welcher frechen Unverschämtheit die damaligen
Führer des Pöbels ihr Wesen oder besser Unwesen trieben. Folgendes Epigramm
kennzeichnet wohl am besten die "Situation":


"Herr. Wie mach' ichs doch, wie werd ich populär.
"PaSquin. I! werdet Pöbel, lieber Herr?" --

Jawohl! Dem Pöbel mußte sich ein Jeder beigesellen, der seinen Theil
am Staatskuchen in Anspruch nehmen wollte. Der Pöbel hatte die Ober¬
hand überall: in der Negierung, in der Kammer, in der Kirche, bei den
Wahlen, in allen Schenken und Kneipen. Wie es bei dem hohen, wichtigen,
ja heiligen Wahlakt zuging, davon macht sich nur der einen richtigen Be¬
griff, der Gelegenheit gehabt hat, dem widerlichen Skandal beizuwohnen. --
Herren und Bauern betranken sich dabei um die Wette, sogar die Herren von
der Negierung. Der Bauer verkaufte seine Stimme im Aufstrich. Wer ihm
den Wanst am besten füllte und dabei mit "liberalen" Versprechen am frei¬
gebigsten war, durfte der Majorität sicher sein. Gewöhnlich waren das die
Herren am Nuder. Diese verfügten über den Staatsseckel und über den ge-
sammten Staatskuchen. Und freigebig waren die Herren, o so freigebig!
am meisten gegen sich selbst und ihre Creaturen. Nichts Frecheres und Un¬
verschämteres läßt sich denken, als das Auftreten und Gevahren dieser Creaturen.
Sie fühlten, daß die Canaille die Herrschaft im Lande hatte, und sie han¬
delten demgemäß. -- Es war das eine wahrhaft entsetzliche, trostlose Zeit,
und es läßt sich schon begreifen, daß die besseren und edleren Herzen verzweifeln
wollten.

Der erste freundlichere Sonnenblick, der in diese Nacht des sittlichen
Elendes, der sittlichen Versunkenheit, fiel, war unser Anschluß an den deut¬
schen Zollverein. Von diesem Tage an datirt die Erhebung, die Re¬
generation, unseres Landes. Wir standen nun nicht mehr so ganz isolirt den
finstern Gewalten preisgegeben, die uns nach dem Abgrunde drängten. Wir


Da durch unser „liberales" Wahlgesetz von 1848 das Ruder des Staates
bei uns factisch in die Hand der Bauern (d. h. der Pastöre) gegeben worden
war, die Bauern somit das Land beherrschten, ohne auch nur einen Begriff
von den wirklichen Bedürfnissen desselben, von Gemeinwohl, von Bürgerrecht
und Bürgerpflicht zu besitzen, so läßt sich leicht denken, wie sich die Besseren,
die Gewissenhafteren, die wirklich Unabhängigeren, bei einer solchen Wirth¬
schaft befinden mußten. Sie, die sich nicht in dies selbstische und gemeine
Treiben mischen konnten und wollten, zogen sich von dem politischen Leben
mehr und mehr zurück. Die besten und edelsten Herzen im Lande begannen
am Heile, an der Zukunft desselben zu verzweifeln. Und wahrlich nicht ohne
Grund! — Wer es nicht mit erlebt hat, kann sich gar keinen Begriff machen,
mit welcher Gemeinheit, mit welcher frechen Unverschämtheit die damaligen
Führer des Pöbels ihr Wesen oder besser Unwesen trieben. Folgendes Epigramm
kennzeichnet wohl am besten die „Situation":


„Herr. Wie mach' ichs doch, wie werd ich populär.
„PaSquin. I! werdet Pöbel, lieber Herr?" —

Jawohl! Dem Pöbel mußte sich ein Jeder beigesellen, der seinen Theil
am Staatskuchen in Anspruch nehmen wollte. Der Pöbel hatte die Ober¬
hand überall: in der Negierung, in der Kammer, in der Kirche, bei den
Wahlen, in allen Schenken und Kneipen. Wie es bei dem hohen, wichtigen,
ja heiligen Wahlakt zuging, davon macht sich nur der einen richtigen Be¬
griff, der Gelegenheit gehabt hat, dem widerlichen Skandal beizuwohnen. —
Herren und Bauern betranken sich dabei um die Wette, sogar die Herren von
der Negierung. Der Bauer verkaufte seine Stimme im Aufstrich. Wer ihm
den Wanst am besten füllte und dabei mit „liberalen" Versprechen am frei¬
gebigsten war, durfte der Majorität sicher sein. Gewöhnlich waren das die
Herren am Nuder. Diese verfügten über den Staatsseckel und über den ge-
sammten Staatskuchen. Und freigebig waren die Herren, o so freigebig!
am meisten gegen sich selbst und ihre Creaturen. Nichts Frecheres und Un¬
verschämteres läßt sich denken, als das Auftreten und Gevahren dieser Creaturen.
Sie fühlten, daß die Canaille die Herrschaft im Lande hatte, und sie han¬
delten demgemäß. — Es war das eine wahrhaft entsetzliche, trostlose Zeit,
und es läßt sich schon begreifen, daß die besseren und edleren Herzen verzweifeln
wollten.

Der erste freundlichere Sonnenblick, der in diese Nacht des sittlichen
Elendes, der sittlichen Versunkenheit, fiel, war unser Anschluß an den deut¬
schen Zollverein. Von diesem Tage an datirt die Erhebung, die Re¬
generation, unseres Landes. Wir standen nun nicht mehr so ganz isolirt den
finstern Gewalten preisgegeben, die uns nach dem Abgrunde drängten. Wir


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[0432] Da durch unser „liberales" Wahlgesetz von 1848 das Ruder des Staates bei uns factisch in die Hand der Bauern (d. h. der Pastöre) gegeben worden war, die Bauern somit das Land beherrschten, ohne auch nur einen Begriff von den wirklichen Bedürfnissen desselben, von Gemeinwohl, von Bürgerrecht und Bürgerpflicht zu besitzen, so läßt sich leicht denken, wie sich die Besseren, die Gewissenhafteren, die wirklich Unabhängigeren, bei einer solchen Wirth¬ schaft befinden mußten. Sie, die sich nicht in dies selbstische und gemeine Treiben mischen konnten und wollten, zogen sich von dem politischen Leben mehr und mehr zurück. Die besten und edelsten Herzen im Lande begannen am Heile, an der Zukunft desselben zu verzweifeln. Und wahrlich nicht ohne Grund! — Wer es nicht mit erlebt hat, kann sich gar keinen Begriff machen, mit welcher Gemeinheit, mit welcher frechen Unverschämtheit die damaligen Führer des Pöbels ihr Wesen oder besser Unwesen trieben. Folgendes Epigramm kennzeichnet wohl am besten die „Situation": „Herr. Wie mach' ichs doch, wie werd ich populär. „PaSquin. I! werdet Pöbel, lieber Herr?" — Jawohl! Dem Pöbel mußte sich ein Jeder beigesellen, der seinen Theil am Staatskuchen in Anspruch nehmen wollte. Der Pöbel hatte die Ober¬ hand überall: in der Negierung, in der Kammer, in der Kirche, bei den Wahlen, in allen Schenken und Kneipen. Wie es bei dem hohen, wichtigen, ja heiligen Wahlakt zuging, davon macht sich nur der einen richtigen Be¬ griff, der Gelegenheit gehabt hat, dem widerlichen Skandal beizuwohnen. — Herren und Bauern betranken sich dabei um die Wette, sogar die Herren von der Negierung. Der Bauer verkaufte seine Stimme im Aufstrich. Wer ihm den Wanst am besten füllte und dabei mit „liberalen" Versprechen am frei¬ gebigsten war, durfte der Majorität sicher sein. Gewöhnlich waren das die Herren am Nuder. Diese verfügten über den Staatsseckel und über den ge- sammten Staatskuchen. Und freigebig waren die Herren, o so freigebig! am meisten gegen sich selbst und ihre Creaturen. Nichts Frecheres und Un¬ verschämteres läßt sich denken, als das Auftreten und Gevahren dieser Creaturen. Sie fühlten, daß die Canaille die Herrschaft im Lande hatte, und sie han¬ delten demgemäß. — Es war das eine wahrhaft entsetzliche, trostlose Zeit, und es läßt sich schon begreifen, daß die besseren und edleren Herzen verzweifeln wollten. Der erste freundlichere Sonnenblick, der in diese Nacht des sittlichen Elendes, der sittlichen Versunkenheit, fiel, war unser Anschluß an den deut¬ schen Zollverein. Von diesem Tage an datirt die Erhebung, die Re¬ generation, unseres Landes. Wir standen nun nicht mehr so ganz isolirt den finstern Gewalten preisgegeben, die uns nach dem Abgrunde drängten. Wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/432>, abgerufen am 06.02.2025.