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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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dieses Werkes. Wer könnte auf die Götter- und Heldensage des deutschen
Alterthums geführt werden, ohne in die anziehendsten Untersuchungen einzutreten,
die merkwürdigsten Räthsel sich nach allen Seiten gezogen zu finden? Wenn
schon in früheren dramatisch musikalischen Werken Wagner Stoffe aus der
deutschen Sagenwelt in ihrer späteren christlich ritterlichen Gestaltung behan¬
delt hat, im Tannhäuser, Lohengrin, wie nachher im Tristan, so hat er in
dem "Ring des Nibelungen" die Götter- und Heldensagen des deutschen Hei-
denthums in ihrem eignen Mittelpunkt zum Gegenstand einer dramatischen
Tetralogie gemacht. Wenn die Göttersage und die Heldensage jede ihren be¬
sonderen Mittelpunkt haben und sich nach den uns aufbewahrten Ueberliefe¬
rungen nur in der Peripherie berühren, so hat Wagner die beiden Sagen¬
kreise wiederum oder erstmals concentrisch dargestellt und aus ihrem einheitlich
erfaßten Mittelpunkt seine Tetralogie aufgebaut.

Es pflegt der Gang der Mythenbildung zu sein, daß dieselbe von einem
und demselben Volksboden aus in gleichartiger Weise, aber unzusammenhän¬
gend, sich verschiedener Erscheinungen bemächtigt und so eine Anzahl unver-
bundener Blüthen treibt. Später findet sich dann wohl die schöpferisch ord¬
nende Hand, welche ergänzend, abschneidend und variirend, aus den vielfachen
Blüthen ein organisches Gebilde zusammensucht. Hierauf wandelt die em¬
pfangende Phantasie des Volksgeistes wieder ihre eigenen Wege und bethä¬
tigt an dem geordneten Gebilde ihre Selbständigkeit durch Einzelumbildung
und Weiterführung, bis das Ganze nicht mehr zu erkennen ist. Wo wir
eine Mythenwelt in dieser zerstreuten Gestalt aus der Vorzeit eines Volkes
empfangen, da entsteht die gewöhnlich nicht zu entscheidende Frage, ob die
Mythen ihre organische Einheit schon einmal gewonnen hatten und nur wie¬
der verloren haben, oder ob der Prozeß in dem Stadium der ersten planlosen
Bildung unterbrochen wurde. Wer dann von der Anziehungskraft eines
solchen Mythenkreises ergriffen wird, mag leicht sich aufgefordert fühlen, die
Einheit nachträglich zur Erscheinung zu bringen, und mag leichter glauben,
die Verlorne wiederherzustellen, als die versäumte nachzuholen. Vielleicht daß
auch Wagner sich eher als Wiederentdecker des verlorenen Einheitskernes der
deutschen Sagenwelt vorkommt, denn als Schöpfer desselben. Im Grunde
ist es die wahre Schöpferkraft, die sich im Besitz eines ewig Wahren fühlt,
von welchem sie eben deshalb annimmt, daß es bereits, wenn auch lange
Zeit verborgen, vorhanden gewesen sei.

Im Fall Wagner, sei eS auf eigene Veranlassung, sei es durch die Ver¬
ehrung seiner Freunde, angesehen werden sollte als Wiederhersteller des gro߬
artigen Mythus der deutschen Vorwelt in seiner echten Gestalt, so müssen wir
wenigstens zwei Vorbehalte machen. Man kann nicht sagen, daß Wagner der
ältesten Ueberlieferung deutscher Sagengestalt, die wir in der Edda besitzen,


Grenzboten til. 1873. 52

dieses Werkes. Wer könnte auf die Götter- und Heldensage des deutschen
Alterthums geführt werden, ohne in die anziehendsten Untersuchungen einzutreten,
die merkwürdigsten Räthsel sich nach allen Seiten gezogen zu finden? Wenn
schon in früheren dramatisch musikalischen Werken Wagner Stoffe aus der
deutschen Sagenwelt in ihrer späteren christlich ritterlichen Gestaltung behan¬
delt hat, im Tannhäuser, Lohengrin, wie nachher im Tristan, so hat er in
dem „Ring des Nibelungen" die Götter- und Heldensagen des deutschen Hei-
denthums in ihrem eignen Mittelpunkt zum Gegenstand einer dramatischen
Tetralogie gemacht. Wenn die Göttersage und die Heldensage jede ihren be¬
sonderen Mittelpunkt haben und sich nach den uns aufbewahrten Ueberliefe¬
rungen nur in der Peripherie berühren, so hat Wagner die beiden Sagen¬
kreise wiederum oder erstmals concentrisch dargestellt und aus ihrem einheitlich
erfaßten Mittelpunkt seine Tetralogie aufgebaut.

Es pflegt der Gang der Mythenbildung zu sein, daß dieselbe von einem
und demselben Volksboden aus in gleichartiger Weise, aber unzusammenhän¬
gend, sich verschiedener Erscheinungen bemächtigt und so eine Anzahl unver-
bundener Blüthen treibt. Später findet sich dann wohl die schöpferisch ord¬
nende Hand, welche ergänzend, abschneidend und variirend, aus den vielfachen
Blüthen ein organisches Gebilde zusammensucht. Hierauf wandelt die em¬
pfangende Phantasie des Volksgeistes wieder ihre eigenen Wege und bethä¬
tigt an dem geordneten Gebilde ihre Selbständigkeit durch Einzelumbildung
und Weiterführung, bis das Ganze nicht mehr zu erkennen ist. Wo wir
eine Mythenwelt in dieser zerstreuten Gestalt aus der Vorzeit eines Volkes
empfangen, da entsteht die gewöhnlich nicht zu entscheidende Frage, ob die
Mythen ihre organische Einheit schon einmal gewonnen hatten und nur wie¬
der verloren haben, oder ob der Prozeß in dem Stadium der ersten planlosen
Bildung unterbrochen wurde. Wer dann von der Anziehungskraft eines
solchen Mythenkreises ergriffen wird, mag leicht sich aufgefordert fühlen, die
Einheit nachträglich zur Erscheinung zu bringen, und mag leichter glauben,
die Verlorne wiederherzustellen, als die versäumte nachzuholen. Vielleicht daß
auch Wagner sich eher als Wiederentdecker des verlorenen Einheitskernes der
deutschen Sagenwelt vorkommt, denn als Schöpfer desselben. Im Grunde
ist es die wahre Schöpferkraft, die sich im Besitz eines ewig Wahren fühlt,
von welchem sie eben deshalb annimmt, daß es bereits, wenn auch lange
Zeit verborgen, vorhanden gewesen sei.

Im Fall Wagner, sei eS auf eigene Veranlassung, sei es durch die Ver¬
ehrung seiner Freunde, angesehen werden sollte als Wiederhersteller des gro߬
artigen Mythus der deutschen Vorwelt in seiner echten Gestalt, so müssen wir
wenigstens zwei Vorbehalte machen. Man kann nicht sagen, daß Wagner der
ältesten Ueberlieferung deutscher Sagengestalt, die wir in der Edda besitzen,


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[0417] dieses Werkes. Wer könnte auf die Götter- und Heldensage des deutschen Alterthums geführt werden, ohne in die anziehendsten Untersuchungen einzutreten, die merkwürdigsten Räthsel sich nach allen Seiten gezogen zu finden? Wenn schon in früheren dramatisch musikalischen Werken Wagner Stoffe aus der deutschen Sagenwelt in ihrer späteren christlich ritterlichen Gestaltung behan¬ delt hat, im Tannhäuser, Lohengrin, wie nachher im Tristan, so hat er in dem „Ring des Nibelungen" die Götter- und Heldensagen des deutschen Hei- denthums in ihrem eignen Mittelpunkt zum Gegenstand einer dramatischen Tetralogie gemacht. Wenn die Göttersage und die Heldensage jede ihren be¬ sonderen Mittelpunkt haben und sich nach den uns aufbewahrten Ueberliefe¬ rungen nur in der Peripherie berühren, so hat Wagner die beiden Sagen¬ kreise wiederum oder erstmals concentrisch dargestellt und aus ihrem einheitlich erfaßten Mittelpunkt seine Tetralogie aufgebaut. Es pflegt der Gang der Mythenbildung zu sein, daß dieselbe von einem und demselben Volksboden aus in gleichartiger Weise, aber unzusammenhän¬ gend, sich verschiedener Erscheinungen bemächtigt und so eine Anzahl unver- bundener Blüthen treibt. Später findet sich dann wohl die schöpferisch ord¬ nende Hand, welche ergänzend, abschneidend und variirend, aus den vielfachen Blüthen ein organisches Gebilde zusammensucht. Hierauf wandelt die em¬ pfangende Phantasie des Volksgeistes wieder ihre eigenen Wege und bethä¬ tigt an dem geordneten Gebilde ihre Selbständigkeit durch Einzelumbildung und Weiterführung, bis das Ganze nicht mehr zu erkennen ist. Wo wir eine Mythenwelt in dieser zerstreuten Gestalt aus der Vorzeit eines Volkes empfangen, da entsteht die gewöhnlich nicht zu entscheidende Frage, ob die Mythen ihre organische Einheit schon einmal gewonnen hatten und nur wie¬ der verloren haben, oder ob der Prozeß in dem Stadium der ersten planlosen Bildung unterbrochen wurde. Wer dann von der Anziehungskraft eines solchen Mythenkreises ergriffen wird, mag leicht sich aufgefordert fühlen, die Einheit nachträglich zur Erscheinung zu bringen, und mag leichter glauben, die Verlorne wiederherzustellen, als die versäumte nachzuholen. Vielleicht daß auch Wagner sich eher als Wiederentdecker des verlorenen Einheitskernes der deutschen Sagenwelt vorkommt, denn als Schöpfer desselben. Im Grunde ist es die wahre Schöpferkraft, die sich im Besitz eines ewig Wahren fühlt, von welchem sie eben deshalb annimmt, daß es bereits, wenn auch lange Zeit verborgen, vorhanden gewesen sei. Im Fall Wagner, sei eS auf eigene Veranlassung, sei es durch die Ver¬ ehrung seiner Freunde, angesehen werden sollte als Wiederhersteller des gro߬ artigen Mythus der deutschen Vorwelt in seiner echten Gestalt, so müssen wir wenigstens zwei Vorbehalte machen. Man kann nicht sagen, daß Wagner der ältesten Ueberlieferung deutscher Sagengestalt, die wir in der Edda besitzen, Grenzboten til. 1873. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/417>, abgerufen am 06.02.2025.