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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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2000) gegründet hatten, die Schrift besessen, welche ihnen der Mythe nach
ein göttliches Wesen, Oannes, halb Fisch, halb Mensch, übers Meer her ge¬
bracht hatte. Der Charakter der Chaldäischen Schrift ist kein hieroglyphischer.
Die Chaldäer traten nicht völlig in die Fußtapfen der Aegypter, unter wel¬
chen ohne Zweifel jene übers Meer hergekommenen Fremdlinge zu verstehen
find; sondern nahmen statt der beschwerlichen Malerei von Bildern ein Sy¬
stem von Strichen an, aus denen sie die Worte zusammensetzten. Diese
Striche sind aller Wahrscheinlichkeit dem Bilde nachgeahmt, das der Griffel
beim Eindrücken in den ältesten, bei den Chaldäern üblichen Beschreibstoff,
den Thon hervorbrachte, dem Bilde eines Kens nämlich, dessen eines Ende
spitz, das andere stumpf ist (V)- Als zweites Zeichen trat das Dreieck hin¬
zu, das wohl ursprünglich das abgestumpfte breite Ende des Kens war (<);
zwei mit den Spitzen an einander gestellte Keile geben den Doppelkei.l
Mit diesen wenigen Strichen reichte die Keilschrift aus; geringe Mittel, welche
dazu nöthigten, viele Zusammensetzungen von Zeichen (Gruppirungen) vorzu¬
nehmen. Manche Schriftzeichen hatten 11, 16, ja 19 Striche, nur bei einer
kleinen Anzahl von Lauten reichten ö-10 Striche aus. Außer den Schrift¬
zeichen für die einzelnen Silben gab es reine Wortzeichen, z. B. für Gott,
König, groß u. a., welche unzerlegbar waren und als Ganzes galten.

Die älteste Babylonische Inschrift ist diejenige auf einer Alabastervase
mit dem Namen Sagaraktipas und auf einigen in Südbabylonischen
Städten gefundenen Ziegeln mit dem Namen Uruck (Orcham); sie mögen
etwa aus dem Jahre 1900 v. Chr. herrühren. Von der ältesten Keilschrift,
durch deren Entzifferung sich Männer wie Oppert, Meraue, Hincks, de Saulcy
und Norris verdient gemacht haben, sind uns etwa 210 Zeichen bekannt.
Von Babylon aus verbreitete sich die Keilschrift ostwärts nach Kissia (Su-
sis, Susa), wo sie manche Umänderung erfuhr, außerdem nordwärts zu den
Assyrern nach Ninive und später zu den Eranischen Bewohnern Armeniens
Und Mediens, Uebertragungen, deren Zeit und Hergang uns völlig dunkel
geblieben sind, da die Alten der Keilschrift fast gar nicht erwähnen.

Thon tafeln und Thoncylinder machen die ältesten Beschreibstoffe
in diesen Ländern des Orients aus; doch haben die Babylonier schon Lettern
wie Keilschriftzeichen aus Holz geschnitten und sie in Form eines Stempels
in die weiche Thonmasse eingegraben oder als Unterschrift auf Urkunden mit
Schwärze ausgedrückt, so daß wir hier den ersten, wenn auch rohen Anfängen
des Buchdrucks begegnen. Außerdem wurde auch härteres Material: Metall¬
scheiben, Steine, Alabaster u. s. w. zum Eingraben von Schriftzeichen benutzt.
Ein in Ninive und Babylon gefundener schwarzer Stein, wie solche in den
Kurdischen Gebirgen vorkommen, enthält 104 Zeilen in Keilschrift. In den


2000) gegründet hatten, die Schrift besessen, welche ihnen der Mythe nach
ein göttliches Wesen, Oannes, halb Fisch, halb Mensch, übers Meer her ge¬
bracht hatte. Der Charakter der Chaldäischen Schrift ist kein hieroglyphischer.
Die Chaldäer traten nicht völlig in die Fußtapfen der Aegypter, unter wel¬
chen ohne Zweifel jene übers Meer hergekommenen Fremdlinge zu verstehen
find; sondern nahmen statt der beschwerlichen Malerei von Bildern ein Sy¬
stem von Strichen an, aus denen sie die Worte zusammensetzten. Diese
Striche sind aller Wahrscheinlichkeit dem Bilde nachgeahmt, das der Griffel
beim Eindrücken in den ältesten, bei den Chaldäern üblichen Beschreibstoff,
den Thon hervorbrachte, dem Bilde eines Kens nämlich, dessen eines Ende
spitz, das andere stumpf ist (V)- Als zweites Zeichen trat das Dreieck hin¬
zu, das wohl ursprünglich das abgestumpfte breite Ende des Kens war (<);
zwei mit den Spitzen an einander gestellte Keile geben den Doppelkei.l
Mit diesen wenigen Strichen reichte die Keilschrift aus; geringe Mittel, welche
dazu nöthigten, viele Zusammensetzungen von Zeichen (Gruppirungen) vorzu¬
nehmen. Manche Schriftzeichen hatten 11, 16, ja 19 Striche, nur bei einer
kleinen Anzahl von Lauten reichten ö-10 Striche aus. Außer den Schrift¬
zeichen für die einzelnen Silben gab es reine Wortzeichen, z. B. für Gott,
König, groß u. a., welche unzerlegbar waren und als Ganzes galten.

Die älteste Babylonische Inschrift ist diejenige auf einer Alabastervase
mit dem Namen Sagaraktipas und auf einigen in Südbabylonischen
Städten gefundenen Ziegeln mit dem Namen Uruck (Orcham); sie mögen
etwa aus dem Jahre 1900 v. Chr. herrühren. Von der ältesten Keilschrift,
durch deren Entzifferung sich Männer wie Oppert, Meraue, Hincks, de Saulcy
und Norris verdient gemacht haben, sind uns etwa 210 Zeichen bekannt.
Von Babylon aus verbreitete sich die Keilschrift ostwärts nach Kissia (Su-
sis, Susa), wo sie manche Umänderung erfuhr, außerdem nordwärts zu den
Assyrern nach Ninive und später zu den Eranischen Bewohnern Armeniens
Und Mediens, Uebertragungen, deren Zeit und Hergang uns völlig dunkel
geblieben sind, da die Alten der Keilschrift fast gar nicht erwähnen.

Thon tafeln und Thoncylinder machen die ältesten Beschreibstoffe
in diesen Ländern des Orients aus; doch haben die Babylonier schon Lettern
wie Keilschriftzeichen aus Holz geschnitten und sie in Form eines Stempels
in die weiche Thonmasse eingegraben oder als Unterschrift auf Urkunden mit
Schwärze ausgedrückt, so daß wir hier den ersten, wenn auch rohen Anfängen
des Buchdrucks begegnen. Außerdem wurde auch härteres Material: Metall¬
scheiben, Steine, Alabaster u. s. w. zum Eingraben von Schriftzeichen benutzt.
Ein in Ninive und Babylon gefundener schwarzer Stein, wie solche in den
Kurdischen Gebirgen vorkommen, enthält 104 Zeilen in Keilschrift. In den


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[0375] 2000) gegründet hatten, die Schrift besessen, welche ihnen der Mythe nach ein göttliches Wesen, Oannes, halb Fisch, halb Mensch, übers Meer her ge¬ bracht hatte. Der Charakter der Chaldäischen Schrift ist kein hieroglyphischer. Die Chaldäer traten nicht völlig in die Fußtapfen der Aegypter, unter wel¬ chen ohne Zweifel jene übers Meer hergekommenen Fremdlinge zu verstehen find; sondern nahmen statt der beschwerlichen Malerei von Bildern ein Sy¬ stem von Strichen an, aus denen sie die Worte zusammensetzten. Diese Striche sind aller Wahrscheinlichkeit dem Bilde nachgeahmt, das der Griffel beim Eindrücken in den ältesten, bei den Chaldäern üblichen Beschreibstoff, den Thon hervorbrachte, dem Bilde eines Kens nämlich, dessen eines Ende spitz, das andere stumpf ist (V)- Als zweites Zeichen trat das Dreieck hin¬ zu, das wohl ursprünglich das abgestumpfte breite Ende des Kens war (<); zwei mit den Spitzen an einander gestellte Keile geben den Doppelkei.l Mit diesen wenigen Strichen reichte die Keilschrift aus; geringe Mittel, welche dazu nöthigten, viele Zusammensetzungen von Zeichen (Gruppirungen) vorzu¬ nehmen. Manche Schriftzeichen hatten 11, 16, ja 19 Striche, nur bei einer kleinen Anzahl von Lauten reichten ö-10 Striche aus. Außer den Schrift¬ zeichen für die einzelnen Silben gab es reine Wortzeichen, z. B. für Gott, König, groß u. a., welche unzerlegbar waren und als Ganzes galten. Die älteste Babylonische Inschrift ist diejenige auf einer Alabastervase mit dem Namen Sagaraktipas und auf einigen in Südbabylonischen Städten gefundenen Ziegeln mit dem Namen Uruck (Orcham); sie mögen etwa aus dem Jahre 1900 v. Chr. herrühren. Von der ältesten Keilschrift, durch deren Entzifferung sich Männer wie Oppert, Meraue, Hincks, de Saulcy und Norris verdient gemacht haben, sind uns etwa 210 Zeichen bekannt. Von Babylon aus verbreitete sich die Keilschrift ostwärts nach Kissia (Su- sis, Susa), wo sie manche Umänderung erfuhr, außerdem nordwärts zu den Assyrern nach Ninive und später zu den Eranischen Bewohnern Armeniens Und Mediens, Uebertragungen, deren Zeit und Hergang uns völlig dunkel geblieben sind, da die Alten der Keilschrift fast gar nicht erwähnen. Thon tafeln und Thoncylinder machen die ältesten Beschreibstoffe in diesen Ländern des Orients aus; doch haben die Babylonier schon Lettern wie Keilschriftzeichen aus Holz geschnitten und sie in Form eines Stempels in die weiche Thonmasse eingegraben oder als Unterschrift auf Urkunden mit Schwärze ausgedrückt, so daß wir hier den ersten, wenn auch rohen Anfängen des Buchdrucks begegnen. Außerdem wurde auch härteres Material: Metall¬ scheiben, Steine, Alabaster u. s. w. zum Eingraben von Schriftzeichen benutzt. Ein in Ninive und Babylon gefundener schwarzer Stein, wie solche in den Kurdischen Gebirgen vorkommen, enthält 104 Zeilen in Keilschrift. In den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/375>, abgerufen am 06.02.2025.