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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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von Literatur lauter Wagneriana entgegen: Das Textbuch der Nivelungentri-
logie, Porträts des großen Kunstreformators in allen Stellungen, natürlich
stets im schwarzen Sammetrock mit dem breiten Atlasaufschlag, Photographieen
nach den Plänen des Theaters und jene berühmte "Autobiographische Skizze"
aus den vierziger Jahren, die vor Kurzem fataler Weise von unberufner Seite
wörtlich wieder nachgedruckt worden ist, nachdem Wagner selbst in der Ge-
sammtausgabe seiner Schriften sich willkürliche Abänderungen darin gestattet
hatte. Was werden wir erst erleben, wenn in zwei Jahren die Wagnerianer
ihre große Wallfahrt nach Bayreuth antreten werden? Dann werden die Zinn¬
gießer Wagnermedaillen prägen, die Seifensieder in duftigen Enveloppen mit
Wagner's Bildniß Wagnerseife verkaufen, und Bäcker und Fleischer werden
die Ankömmlinge mit Wagnerbrödchen und Wagnerwürstchen regaliren. Dös
wird a Freid' werden, dös!

Mit zwei Worten muß ich doch schließlich noch eines Kunstgenusses ge¬
denken, der gestern den Berneckern bereitet wurde. Eine zugereiste Dame von
ziemlich gesetztem Alter, die sich trotz ihrer affectirter Aussprache sofort als
Sächsin verrieth, kündigte an den Straßenecken an, daß sie am Abend im
Gasthofe zum Löwen eine dramatische Vorlesung halten werde; Gegenstand:
Sophokle's Antigone. Entree 36 Kr. Ich dachte, ich müßte in die Erde sinken:
Berneck und Antigone! Eine Curgästin aus Bayreuth hatte sich sogar bereit
finden lassen, die Mendelssohn'sche Musik dazu in zweihändigen Arrangement
auf dem Piano zu liefern, auf einer bei Tische circulirenden Subsriptionsliste
hatten die Honoratioren von Berneck gezeichnet, und so wurde denn der Zauber
ins Werk gesetzt. Ein komischeres Bild werde ich wol nicht so bald wieder
sehen, als das, wie gestern Abend eine Viertelstunde vor Beginn der Vor¬
stellung das Pianino aus dem "Curhause" auf einem mit einer Kuh bespann¬
ten Heuwagen und begleitet von einer Schaar kleiner Bernecker Dreckteufel,
die den Wunderschrank mit offenem Munde anstaunten, nach dem Gasthofe
transportirt wurde. Den Schmerz, die Sophokleische Dichtung von dieser
Sommerfrischenrhapsodin zermartern zu hören, habe ich mir natürlich erspart.
Es sollen, wie erzählt wurde, ein ganzer Schwarm solcher Imitationen von
Türschmann, Palleske, Wauer und Gen^e und darunter auch diverse weibliche
Exemplare diesen Sommer die deutschen Bäder und Curorte unsicher machen.
Ein Auditorium von ungefähr 25 Personen hat zu den Füßen unsrer Ana-
gnostin gesessen. Sie sprach es heute mit Entrüstung aus, daß es Berneck an
"höhern Curgästen" fehle, die für so was Sinn haben. Arme, gekränkte,
ahnungslose Künstlerin!




Verantwortlicher Redakteur: or, Hans Blum.
Verlag von F. L. Hervig. -- Druck von Hüthel K Legler in Leipzig.

von Literatur lauter Wagneriana entgegen: Das Textbuch der Nivelungentri-
logie, Porträts des großen Kunstreformators in allen Stellungen, natürlich
stets im schwarzen Sammetrock mit dem breiten Atlasaufschlag, Photographieen
nach den Plänen des Theaters und jene berühmte „Autobiographische Skizze"
aus den vierziger Jahren, die vor Kurzem fataler Weise von unberufner Seite
wörtlich wieder nachgedruckt worden ist, nachdem Wagner selbst in der Ge-
sammtausgabe seiner Schriften sich willkürliche Abänderungen darin gestattet
hatte. Was werden wir erst erleben, wenn in zwei Jahren die Wagnerianer
ihre große Wallfahrt nach Bayreuth antreten werden? Dann werden die Zinn¬
gießer Wagnermedaillen prägen, die Seifensieder in duftigen Enveloppen mit
Wagner's Bildniß Wagnerseife verkaufen, und Bäcker und Fleischer werden
die Ankömmlinge mit Wagnerbrödchen und Wagnerwürstchen regaliren. Dös
wird a Freid' werden, dös!

Mit zwei Worten muß ich doch schließlich noch eines Kunstgenusses ge¬
denken, der gestern den Berneckern bereitet wurde. Eine zugereiste Dame von
ziemlich gesetztem Alter, die sich trotz ihrer affectirter Aussprache sofort als
Sächsin verrieth, kündigte an den Straßenecken an, daß sie am Abend im
Gasthofe zum Löwen eine dramatische Vorlesung halten werde; Gegenstand:
Sophokle's Antigone. Entree 36 Kr. Ich dachte, ich müßte in die Erde sinken:
Berneck und Antigone! Eine Curgästin aus Bayreuth hatte sich sogar bereit
finden lassen, die Mendelssohn'sche Musik dazu in zweihändigen Arrangement
auf dem Piano zu liefern, auf einer bei Tische circulirenden Subsriptionsliste
hatten die Honoratioren von Berneck gezeichnet, und so wurde denn der Zauber
ins Werk gesetzt. Ein komischeres Bild werde ich wol nicht so bald wieder
sehen, als das, wie gestern Abend eine Viertelstunde vor Beginn der Vor¬
stellung das Pianino aus dem „Curhause" auf einem mit einer Kuh bespann¬
ten Heuwagen und begleitet von einer Schaar kleiner Bernecker Dreckteufel,
die den Wunderschrank mit offenem Munde anstaunten, nach dem Gasthofe
transportirt wurde. Den Schmerz, die Sophokleische Dichtung von dieser
Sommerfrischenrhapsodin zermartern zu hören, habe ich mir natürlich erspart.
Es sollen, wie erzählt wurde, ein ganzer Schwarm solcher Imitationen von
Türschmann, Palleske, Wauer und Gen^e und darunter auch diverse weibliche
Exemplare diesen Sommer die deutschen Bäder und Curorte unsicher machen.
Ein Auditorium von ungefähr 25 Personen hat zu den Füßen unsrer Ana-
gnostin gesessen. Sie sprach es heute mit Entrüstung aus, daß es Berneck an
„höhern Curgästen" fehle, die für so was Sinn haben. Arme, gekränkte,
ahnungslose Künstlerin!




Verantwortlicher Redakteur: or, Hans Blum.
Verlag von F. L. Hervig. — Druck von Hüthel K Legler in Leipzig.
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[0368] von Literatur lauter Wagneriana entgegen: Das Textbuch der Nivelungentri- logie, Porträts des großen Kunstreformators in allen Stellungen, natürlich stets im schwarzen Sammetrock mit dem breiten Atlasaufschlag, Photographieen nach den Plänen des Theaters und jene berühmte „Autobiographische Skizze" aus den vierziger Jahren, die vor Kurzem fataler Weise von unberufner Seite wörtlich wieder nachgedruckt worden ist, nachdem Wagner selbst in der Ge- sammtausgabe seiner Schriften sich willkürliche Abänderungen darin gestattet hatte. Was werden wir erst erleben, wenn in zwei Jahren die Wagnerianer ihre große Wallfahrt nach Bayreuth antreten werden? Dann werden die Zinn¬ gießer Wagnermedaillen prägen, die Seifensieder in duftigen Enveloppen mit Wagner's Bildniß Wagnerseife verkaufen, und Bäcker und Fleischer werden die Ankömmlinge mit Wagnerbrödchen und Wagnerwürstchen regaliren. Dös wird a Freid' werden, dös! Mit zwei Worten muß ich doch schließlich noch eines Kunstgenusses ge¬ denken, der gestern den Berneckern bereitet wurde. Eine zugereiste Dame von ziemlich gesetztem Alter, die sich trotz ihrer affectirter Aussprache sofort als Sächsin verrieth, kündigte an den Straßenecken an, daß sie am Abend im Gasthofe zum Löwen eine dramatische Vorlesung halten werde; Gegenstand: Sophokle's Antigone. Entree 36 Kr. Ich dachte, ich müßte in die Erde sinken: Berneck und Antigone! Eine Curgästin aus Bayreuth hatte sich sogar bereit finden lassen, die Mendelssohn'sche Musik dazu in zweihändigen Arrangement auf dem Piano zu liefern, auf einer bei Tische circulirenden Subsriptionsliste hatten die Honoratioren von Berneck gezeichnet, und so wurde denn der Zauber ins Werk gesetzt. Ein komischeres Bild werde ich wol nicht so bald wieder sehen, als das, wie gestern Abend eine Viertelstunde vor Beginn der Vor¬ stellung das Pianino aus dem „Curhause" auf einem mit einer Kuh bespann¬ ten Heuwagen und begleitet von einer Schaar kleiner Bernecker Dreckteufel, die den Wunderschrank mit offenem Munde anstaunten, nach dem Gasthofe transportirt wurde. Den Schmerz, die Sophokleische Dichtung von dieser Sommerfrischenrhapsodin zermartern zu hören, habe ich mir natürlich erspart. Es sollen, wie erzählt wurde, ein ganzer Schwarm solcher Imitationen von Türschmann, Palleske, Wauer und Gen^e und darunter auch diverse weibliche Exemplare diesen Sommer die deutschen Bäder und Curorte unsicher machen. Ein Auditorium von ungefähr 25 Personen hat zu den Füßen unsrer Ana- gnostin gesessen. Sie sprach es heute mit Entrüstung aus, daß es Berneck an „höhern Curgästen" fehle, die für so was Sinn haben. Arme, gekränkte, ahnungslose Künstlerin! Verantwortlicher Redakteur: or, Hans Blum. Verlag von F. L. Hervig. — Druck von Hüthel K Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/368>, abgerufen am 06.02.2025.