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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Wie gesagt, es war das wol in demselben Maße etwas zu viel des zu
Lehrenden auf einmal, wie vorher dessen zu wenig gewesen.

Indessen scheint doch der Versuch -- den Rochow selbst jedenfalls durch
Anstellung möglichst tauglicher Lehrer und durch stetige eigne Aufsicht auf den
Unterricht nach Kräften unterstützte -- gute Früchte getragen zu haben. Aus
der Biographie des berühmten Theologen Paulus erfahren wir, daß die
Rochow'schen Schulen sich ausgezeichnet durch verständiges Lesen und besseres
Sprechen der Kinder, durch eine deutliche und praktische Unterweisung der¬
selben sogar in mehr abstracten Begriffen, durch Beibringung mancher fürs
Leben nöthigen Kenntnisse und durch Ablenkung von Vorurtheilen. Eine be¬
ständige Thätigkeit und ein liebreicher Ernst des Lehrers habe hier erreicht,
was man sonst nur durch harte Strafen erzwingen zu können meinte. Die
Kinder rechneten und schrieben gut, wußten sogar in der deutschen Gramma¬
tik mit Nenn- und Beiwörtern Bescheid u. s. w.

Die Rochow'schen Schulen wurden bald ein Gegenstand der Bewunderung
und der Nacheiferung in weitesten Kreisen. Der Berliner Consistorialrath
Büsching machte sich auf (vielleicht auf des Königs Befehl), um dieselben aus
eigenem Augenschein kennen zu lernen, und legte seine durchaus günstigen Be¬
obachtungen in einer besonderen Schrift: "Reise nach Reckahn" nieder. Der
katholische Fürstbischof von Bamberg und Würzburg, der menschenfreundliche
Franz Ludwig v. Erthal, setzte sich mit dem evangelischen Domherrn v. Rochow
in Briefwechsel, um dessen reformatorische Ideen in seinen Bisthümern ein¬
zuführen. Zahlreiche Lehrer pilgerten nach Reckahn, um die neue Methode an
Ort und Stelle zu studiren, und alle bezeugten sich mit den Erfolgen derselben
sehr zufrieden. Zufriedener als Rochow selbst, der, wie er in der von ihm selbst
verfaßten Schrift: "Geschichte meiner Schulen" (1775) äußert, "sich ein ganz
anderes Ideal von einer vollkommenen Schule vorgestellt, allein daran ver¬
zweifelt habe, solche Lehrer zu finden, welche die Dorfjugend in Feld und
Wald führten, sie bei nützlicher Berufsarbeit richtig denken und durch die Na¬
tur selbst, statt aller Bücher, recht hören, sehen, aufmerken, beobachten, unter¬
scheiden, urtheilen, vor- und rückwärts schließen lehrten, damit sie in der Na¬
tur selbst Gott erkennen lernten."

Dies, meint er, sei nicht zu erreichen gewesen, und so habe er sich mit
dem Minus begnügen müssen: die Kinder wenigstens denken zu lehren.

Auch eine förmliche "Industrieschule" ward zu Reckahn durch Frau
v. Rochow angelegt. Die Mädchen lernten darin von einer Frau nähen
und stricken; die Jungen wurden angehalten, zu Hause zu spinnen. Aber
die Aeltern wollten das Material zum Stricken nicht geben; sie wollten nicht be¬
greifen, daß auch das Lernen nützlicher Arbeit eine Sache der Schule sei, und
hielten dafür nur das Hersagen eines Auswendiggelernten. "O Papageien"


Wie gesagt, es war das wol in demselben Maße etwas zu viel des zu
Lehrenden auf einmal, wie vorher dessen zu wenig gewesen.

Indessen scheint doch der Versuch — den Rochow selbst jedenfalls durch
Anstellung möglichst tauglicher Lehrer und durch stetige eigne Aufsicht auf den
Unterricht nach Kräften unterstützte — gute Früchte getragen zu haben. Aus
der Biographie des berühmten Theologen Paulus erfahren wir, daß die
Rochow'schen Schulen sich ausgezeichnet durch verständiges Lesen und besseres
Sprechen der Kinder, durch eine deutliche und praktische Unterweisung der¬
selben sogar in mehr abstracten Begriffen, durch Beibringung mancher fürs
Leben nöthigen Kenntnisse und durch Ablenkung von Vorurtheilen. Eine be¬
ständige Thätigkeit und ein liebreicher Ernst des Lehrers habe hier erreicht,
was man sonst nur durch harte Strafen erzwingen zu können meinte. Die
Kinder rechneten und schrieben gut, wußten sogar in der deutschen Gramma¬
tik mit Nenn- und Beiwörtern Bescheid u. s. w.

Die Rochow'schen Schulen wurden bald ein Gegenstand der Bewunderung
und der Nacheiferung in weitesten Kreisen. Der Berliner Consistorialrath
Büsching machte sich auf (vielleicht auf des Königs Befehl), um dieselben aus
eigenem Augenschein kennen zu lernen, und legte seine durchaus günstigen Be¬
obachtungen in einer besonderen Schrift: „Reise nach Reckahn" nieder. Der
katholische Fürstbischof von Bamberg und Würzburg, der menschenfreundliche
Franz Ludwig v. Erthal, setzte sich mit dem evangelischen Domherrn v. Rochow
in Briefwechsel, um dessen reformatorische Ideen in seinen Bisthümern ein¬
zuführen. Zahlreiche Lehrer pilgerten nach Reckahn, um die neue Methode an
Ort und Stelle zu studiren, und alle bezeugten sich mit den Erfolgen derselben
sehr zufrieden. Zufriedener als Rochow selbst, der, wie er in der von ihm selbst
verfaßten Schrift: „Geschichte meiner Schulen" (1775) äußert, „sich ein ganz
anderes Ideal von einer vollkommenen Schule vorgestellt, allein daran ver¬
zweifelt habe, solche Lehrer zu finden, welche die Dorfjugend in Feld und
Wald führten, sie bei nützlicher Berufsarbeit richtig denken und durch die Na¬
tur selbst, statt aller Bücher, recht hören, sehen, aufmerken, beobachten, unter¬
scheiden, urtheilen, vor- und rückwärts schließen lehrten, damit sie in der Na¬
tur selbst Gott erkennen lernten."

Dies, meint er, sei nicht zu erreichen gewesen, und so habe er sich mit
dem Minus begnügen müssen: die Kinder wenigstens denken zu lehren.

Auch eine förmliche „Industrieschule" ward zu Reckahn durch Frau
v. Rochow angelegt. Die Mädchen lernten darin von einer Frau nähen
und stricken; die Jungen wurden angehalten, zu Hause zu spinnen. Aber
die Aeltern wollten das Material zum Stricken nicht geben; sie wollten nicht be¬
greifen, daß auch das Lernen nützlicher Arbeit eine Sache der Schule sei, und
hielten dafür nur das Hersagen eines Auswendiggelernten. „O Papageien»


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[0275] Wie gesagt, es war das wol in demselben Maße etwas zu viel des zu Lehrenden auf einmal, wie vorher dessen zu wenig gewesen. Indessen scheint doch der Versuch — den Rochow selbst jedenfalls durch Anstellung möglichst tauglicher Lehrer und durch stetige eigne Aufsicht auf den Unterricht nach Kräften unterstützte — gute Früchte getragen zu haben. Aus der Biographie des berühmten Theologen Paulus erfahren wir, daß die Rochow'schen Schulen sich ausgezeichnet durch verständiges Lesen und besseres Sprechen der Kinder, durch eine deutliche und praktische Unterweisung der¬ selben sogar in mehr abstracten Begriffen, durch Beibringung mancher fürs Leben nöthigen Kenntnisse und durch Ablenkung von Vorurtheilen. Eine be¬ ständige Thätigkeit und ein liebreicher Ernst des Lehrers habe hier erreicht, was man sonst nur durch harte Strafen erzwingen zu können meinte. Die Kinder rechneten und schrieben gut, wußten sogar in der deutschen Gramma¬ tik mit Nenn- und Beiwörtern Bescheid u. s. w. Die Rochow'schen Schulen wurden bald ein Gegenstand der Bewunderung und der Nacheiferung in weitesten Kreisen. Der Berliner Consistorialrath Büsching machte sich auf (vielleicht auf des Königs Befehl), um dieselben aus eigenem Augenschein kennen zu lernen, und legte seine durchaus günstigen Be¬ obachtungen in einer besonderen Schrift: „Reise nach Reckahn" nieder. Der katholische Fürstbischof von Bamberg und Würzburg, der menschenfreundliche Franz Ludwig v. Erthal, setzte sich mit dem evangelischen Domherrn v. Rochow in Briefwechsel, um dessen reformatorische Ideen in seinen Bisthümern ein¬ zuführen. Zahlreiche Lehrer pilgerten nach Reckahn, um die neue Methode an Ort und Stelle zu studiren, und alle bezeugten sich mit den Erfolgen derselben sehr zufrieden. Zufriedener als Rochow selbst, der, wie er in der von ihm selbst verfaßten Schrift: „Geschichte meiner Schulen" (1775) äußert, „sich ein ganz anderes Ideal von einer vollkommenen Schule vorgestellt, allein daran ver¬ zweifelt habe, solche Lehrer zu finden, welche die Dorfjugend in Feld und Wald führten, sie bei nützlicher Berufsarbeit richtig denken und durch die Na¬ tur selbst, statt aller Bücher, recht hören, sehen, aufmerken, beobachten, unter¬ scheiden, urtheilen, vor- und rückwärts schließen lehrten, damit sie in der Na¬ tur selbst Gott erkennen lernten." Dies, meint er, sei nicht zu erreichen gewesen, und so habe er sich mit dem Minus begnügen müssen: die Kinder wenigstens denken zu lehren. Auch eine förmliche „Industrieschule" ward zu Reckahn durch Frau v. Rochow angelegt. Die Mädchen lernten darin von einer Frau nähen und stricken; die Jungen wurden angehalten, zu Hause zu spinnen. Aber die Aeltern wollten das Material zum Stricken nicht geben; sie wollten nicht be¬ greifen, daß auch das Lernen nützlicher Arbeit eine Sache der Schule sei, und hielten dafür nur das Hersagen eines Auswendiggelernten. „O Papageien»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/275>, abgerufen am 06.02.2025.