Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.Impromptu Op. 90, Ur. 1. von Clara Schumann spielen hören: wir möch¬ Aber der unversöhnliche Haß gegen das Clavier verleitet unsern trefflichen Ebenso gefährlich wie für den Spieler, meint Bruno Meyer, sei das Impromptu Op. 90, Ur. 1. von Clara Schumann spielen hören: wir möch¬ Aber der unversöhnliche Haß gegen das Clavier verleitet unsern trefflichen Ebenso gefährlich wie für den Spieler, meint Bruno Meyer, sei das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0259" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193062"/> <p xml:id="ID_833" prev="#ID_832"> Impromptu Op. 90, Ur. 1. von Clara Schumann spielen hören: wir möch¬<lb/> ten doch wissen, ob er das wirklich zum verzweifeln finden würde.</p><lb/> <p xml:id="ID_834"> Aber der unversöhnliche Haß gegen das Clavier verleitet unsern trefflichen<lb/> ästhetischen Paedagogen zu noch schlimmeren Dingen. Unter den Beweisen,<lb/> die er für unsere musikalische Unbildung anführt, ist auch folgende Ge¬<lb/> schichte. Auf dem Berliner Universitätsballe, also zweifelsohne in der ge¬<lb/> wähltester Gesellschaft, hatte Bruno Meyer als Festordner vor der Polonaise<lb/> zur Eröffnung des Balles die Ouvertüre zur „Stummen" spielen lassen, und er<lb/> berichtet nun mit sittlicher Entrüstung, wie das ganze gebildete Publikum mit dem<lb/> Rector und den Senatsmitgliedern an der Spitze paarweise antrat und nach<lb/> den Klängen der Ander'schen Ouvertüre im Saale Polonaise spazieren ging!<lb/> Die Geschichte ist Thatsache. Was beweist sie aber? Erstens, daß man ein<lb/> sehr anständiger Mensch sein kann und doch die Ouvertüre zur „Stummen"<lb/> nicht zu kennen braucht, zweitens, daß die Ballgäste so in ihre Unterhaltung<lb/> vertieft oder so aus den Anfang der Polonaise erpicht gewesen sind, daß sie<lb/> sofort bei den ersten Klängen des Orchesters, ohne weiter hinzuhören, ihre<lb/> Tanzgebeine in Bewegung setzten, und als sie ihren Irrthum gewahr geworden,<lb/> unter heiterer Selvstironisirung ruhig weiterstrampelten, möglicherweise auch<lb/> drittens, daß es mit dem Gefühl für Rhythmik bei Einzelnen schlecht bestellt ge¬<lb/> wesen sein mag. Denn wenn die Polonaise auch nicht getanzt wird, so wird<lb/> sie doch in einem regelmäßigen Tacte gegangen. Wie das jemand nach der<lb/> Ouvertüre zur „Stummen" fertig bringt, ist nun freilich nicht recht begreiflich,<lb/> sich darüber aber in solcher Weise zu ereifern, wie das Bruno Meyer thut,<lb/> ist das nicht ein wenig ästhetische Muckerei? Wenn wir die ganze komische<lb/> Begebenheit mit derselben ästhetischen Orthodoxie betrachten wollen, wie er,<lb/> dann drängt sich uns die Frage auf: Was ist das größere Verbrechen, nach<lb/> einer Ouvertüre Polonaise zu marschiren, oder zur Eröffnung eines Tanzver¬<lb/> gnügens—und wäre es auch ein Tanzvergnügen von Professoren —eine Ouvertüre<lb/> spielen zu lassen? Es war zwar nur eine Ouvertüre von Ander; aber wer steht<lb/> dafür, daß der Vergnügungsrath bei seinem hohen ästhetischen Pflichtgefühl<lb/> und seinem reformatorischen Eifer nicht auch einmal eine Beethoven'sche spielen<lb/> läßt? Das beste kommt aber noch. Bruno Meyer behauptet allen<lb/> Ernstes, daß, wenn alle Besucher jenes Balles eben so viel ein „tonbildendes"<lb/> Instrument gespielt oder zu hören Gelegenheit gehabt hätten, wie ihnen bei¬<lb/> des mit dem Clavier beschieden gewesen, nicht der zehnte Theil von ihnen<lb/> sich von den Sitzen gerührt haben würde. Was haben aber in aller Welt<lb/> Tonbildung und Rhythmus mit einander zu schaffen? Man sollte doch<lb/> meinen, das Taktgefühl ließe sich jemandem eben so leicht, wenn nicht noch<lb/> leichter am Clavier anerziehen, als an der Geige oder dem Piston.</p><lb/> <p xml:id="ID_835" next="#ID_836"> Ebenso gefährlich wie für den Spieler, meint Bruno Meyer, sei das</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0259]
Impromptu Op. 90, Ur. 1. von Clara Schumann spielen hören: wir möch¬
ten doch wissen, ob er das wirklich zum verzweifeln finden würde.
Aber der unversöhnliche Haß gegen das Clavier verleitet unsern trefflichen
ästhetischen Paedagogen zu noch schlimmeren Dingen. Unter den Beweisen,
die er für unsere musikalische Unbildung anführt, ist auch folgende Ge¬
schichte. Auf dem Berliner Universitätsballe, also zweifelsohne in der ge¬
wähltester Gesellschaft, hatte Bruno Meyer als Festordner vor der Polonaise
zur Eröffnung des Balles die Ouvertüre zur „Stummen" spielen lassen, und er
berichtet nun mit sittlicher Entrüstung, wie das ganze gebildete Publikum mit dem
Rector und den Senatsmitgliedern an der Spitze paarweise antrat und nach
den Klängen der Ander'schen Ouvertüre im Saale Polonaise spazieren ging!
Die Geschichte ist Thatsache. Was beweist sie aber? Erstens, daß man ein
sehr anständiger Mensch sein kann und doch die Ouvertüre zur „Stummen"
nicht zu kennen braucht, zweitens, daß die Ballgäste so in ihre Unterhaltung
vertieft oder so aus den Anfang der Polonaise erpicht gewesen sind, daß sie
sofort bei den ersten Klängen des Orchesters, ohne weiter hinzuhören, ihre
Tanzgebeine in Bewegung setzten, und als sie ihren Irrthum gewahr geworden,
unter heiterer Selvstironisirung ruhig weiterstrampelten, möglicherweise auch
drittens, daß es mit dem Gefühl für Rhythmik bei Einzelnen schlecht bestellt ge¬
wesen sein mag. Denn wenn die Polonaise auch nicht getanzt wird, so wird
sie doch in einem regelmäßigen Tacte gegangen. Wie das jemand nach der
Ouvertüre zur „Stummen" fertig bringt, ist nun freilich nicht recht begreiflich,
sich darüber aber in solcher Weise zu ereifern, wie das Bruno Meyer thut,
ist das nicht ein wenig ästhetische Muckerei? Wenn wir die ganze komische
Begebenheit mit derselben ästhetischen Orthodoxie betrachten wollen, wie er,
dann drängt sich uns die Frage auf: Was ist das größere Verbrechen, nach
einer Ouvertüre Polonaise zu marschiren, oder zur Eröffnung eines Tanzver¬
gnügens—und wäre es auch ein Tanzvergnügen von Professoren —eine Ouvertüre
spielen zu lassen? Es war zwar nur eine Ouvertüre von Ander; aber wer steht
dafür, daß der Vergnügungsrath bei seinem hohen ästhetischen Pflichtgefühl
und seinem reformatorischen Eifer nicht auch einmal eine Beethoven'sche spielen
läßt? Das beste kommt aber noch. Bruno Meyer behauptet allen
Ernstes, daß, wenn alle Besucher jenes Balles eben so viel ein „tonbildendes"
Instrument gespielt oder zu hören Gelegenheit gehabt hätten, wie ihnen bei¬
des mit dem Clavier beschieden gewesen, nicht der zehnte Theil von ihnen
sich von den Sitzen gerührt haben würde. Was haben aber in aller Welt
Tonbildung und Rhythmus mit einander zu schaffen? Man sollte doch
meinen, das Taktgefühl ließe sich jemandem eben so leicht, wenn nicht noch
leichter am Clavier anerziehen, als an der Geige oder dem Piston.
Ebenso gefährlich wie für den Spieler, meint Bruno Meyer, sei das
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