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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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darstellen, denn sie erreicht wenigstens annähernd -- vollkommen auch nicht --
jene dauernde, sich gleichbleibende Materialität des Tones, die er beim Clavier
vermißt. Dann kämen die Blasinstrumente, dann erst die Streichinstrumente
und die menschliche Stimme. Woran mag es aber wohl liegen, daß wir
Orgelmusik und ein Ensemble von Blasinstrumenten so bald satt bekommen?
Daß wir dem Clavier viel länger zuhören können? Sollte es nicht vielleicht
damit zusammenhängen, daß das Clavier jene ermüdende und erdrückende Ma¬
terialität des Tones gerade nicht besitzt? Und sollte man es nicht lieber
für eine Art Vorzug des Clavieres halten, daß es eben wegen dieses
Mangels uns zu einer eigenen geistigen Thätigkeit nöthigt, zu der weder die
Orgel noch ein Ensemble von Blasinstrumenten treibt, nämlich zu einem so¬
zusagen activen, schöpferischen Hören im Gegensatz zu dem bloß passiven
und receptiven Hören, zu welchem uns die Orgel verurtheilt? Dazu kommt
aber noch etwas anderes. In Musikstücken, die für das Clavier gedacht und
componirt sind, ist dieser vermeintliche Mangel nur in sehr geringem Grade
vorhanden; unangenehm empfinden könnte man ihn höchstens bei Clavier-
arrangements von Orchester- oder Gesangcompositionen. Claviermusik ist eben,
wenn es echte Claviermusik ist, etwas durchaus anderes als Instrumental- oder
Vocalmusik. Haydn'sche Claviermusik freilich ist eben keine, es ist Musik für
Streichinstrumente, die nur dem Clavier octroyirt ist, während umgekehrt
Schubert'sche oder Weber'sche Instrumentalmusik nicht selten den Eindruck
macht, als ob sie am Clavier ersonnen wäre. In der echten Claviermusik
aber ist aus jener Noth geradezu eine Tugend gemacht; die reizendsten und
entzückendsten Klangwirkungen, mit denen Mendelssohn, Chopin, Schumann
die Claviermusik bereichert haben, und deren Zaubermacht sich der gries-
grämlichste ästhetische Principienreiter nicht entziehen kann, wenn er überhaupt
musikalisch empfänglich ist, beruhen zum großen Theil auf einer genialen
Ausbeutung jenes angeblichen Mangels.

Es ist nicht abzuleugnen, daß man in einer langsam aufeinander fol¬
genden Reihe von einzelnen auf dem Clavier angeschlagenen Tönen, wenn man
gerade darauf ausgeht, sich selbst zu peinigen, das Abnehmen des Tonkörpers
empfinden kann. Aber zu sagen, wie Bruno Meyer thut, eine getragene
Melodie unharmonifirt auf dem Clavier zu hören, sei "zum Verzweifeln", aus
dem Piston dagegen ..hinreißend", das heißt doch das Kind mir dem Bade
ausschütten. Wenn Bruno Meyer sich durch ein Pistonsolo hinreißen läßt,
so ist das seine Sache; wir für unseren Theil überlassen diesen Genuß sehr
gern dem Publikum der Sonntagsnachmittagsgartenconcerte und rathen Bruno
Meyer, zu seiner Abkühlung gelegentlich einmal zu lesen, was Ferdinand
Hiller in seinem Aufsatze "Zu viel Musik" über den "sentimentalen Trompeter-
sagt; dagegen wünschten wir, Bruno Meyer könnte einmal das Schubert'sche


darstellen, denn sie erreicht wenigstens annähernd — vollkommen auch nicht —
jene dauernde, sich gleichbleibende Materialität des Tones, die er beim Clavier
vermißt. Dann kämen die Blasinstrumente, dann erst die Streichinstrumente
und die menschliche Stimme. Woran mag es aber wohl liegen, daß wir
Orgelmusik und ein Ensemble von Blasinstrumenten so bald satt bekommen?
Daß wir dem Clavier viel länger zuhören können? Sollte es nicht vielleicht
damit zusammenhängen, daß das Clavier jene ermüdende und erdrückende Ma¬
terialität des Tones gerade nicht besitzt? Und sollte man es nicht lieber
für eine Art Vorzug des Clavieres halten, daß es eben wegen dieses
Mangels uns zu einer eigenen geistigen Thätigkeit nöthigt, zu der weder die
Orgel noch ein Ensemble von Blasinstrumenten treibt, nämlich zu einem so¬
zusagen activen, schöpferischen Hören im Gegensatz zu dem bloß passiven
und receptiven Hören, zu welchem uns die Orgel verurtheilt? Dazu kommt
aber noch etwas anderes. In Musikstücken, die für das Clavier gedacht und
componirt sind, ist dieser vermeintliche Mangel nur in sehr geringem Grade
vorhanden; unangenehm empfinden könnte man ihn höchstens bei Clavier-
arrangements von Orchester- oder Gesangcompositionen. Claviermusik ist eben,
wenn es echte Claviermusik ist, etwas durchaus anderes als Instrumental- oder
Vocalmusik. Haydn'sche Claviermusik freilich ist eben keine, es ist Musik für
Streichinstrumente, die nur dem Clavier octroyirt ist, während umgekehrt
Schubert'sche oder Weber'sche Instrumentalmusik nicht selten den Eindruck
macht, als ob sie am Clavier ersonnen wäre. In der echten Claviermusik
aber ist aus jener Noth geradezu eine Tugend gemacht; die reizendsten und
entzückendsten Klangwirkungen, mit denen Mendelssohn, Chopin, Schumann
die Claviermusik bereichert haben, und deren Zaubermacht sich der gries-
grämlichste ästhetische Principienreiter nicht entziehen kann, wenn er überhaupt
musikalisch empfänglich ist, beruhen zum großen Theil auf einer genialen
Ausbeutung jenes angeblichen Mangels.

Es ist nicht abzuleugnen, daß man in einer langsam aufeinander fol¬
genden Reihe von einzelnen auf dem Clavier angeschlagenen Tönen, wenn man
gerade darauf ausgeht, sich selbst zu peinigen, das Abnehmen des Tonkörpers
empfinden kann. Aber zu sagen, wie Bruno Meyer thut, eine getragene
Melodie unharmonifirt auf dem Clavier zu hören, sei „zum Verzweifeln", aus
dem Piston dagegen ..hinreißend", das heißt doch das Kind mir dem Bade
ausschütten. Wenn Bruno Meyer sich durch ein Pistonsolo hinreißen läßt,
so ist das seine Sache; wir für unseren Theil überlassen diesen Genuß sehr
gern dem Publikum der Sonntagsnachmittagsgartenconcerte und rathen Bruno
Meyer, zu seiner Abkühlung gelegentlich einmal zu lesen, was Ferdinand
Hiller in seinem Aufsatze „Zu viel Musik" über den „sentimentalen Trompeter-
sagt; dagegen wünschten wir, Bruno Meyer könnte einmal das Schubert'sche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/258>, abgerufen am 06.02.2025.