Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.begegnet uns schon hier ein sehr auffallender Vergleich: Bruno Meyer stellt den begegnet uns schon hier ein sehr auffallender Vergleich: Bruno Meyer stellt den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0255" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193058"/> <p xml:id="ID_824" prev="#ID_823" next="#ID_825"> begegnet uns schon hier ein sehr auffallender Vergleich: Bruno Meyer stellt den<lb/> vortragenden Virtuosen mit dem Kupferstecher in Parallele! Wir fragen:<lb/> Wozu überhaupt solche Analogieen? Musik und bildende Kunst haben so ganz<lb/> verschiedene Voraussetzungen, sie schaffen in so verschiedenen Stoffen und auf<lb/> so verschiedene Art — die eine ein Nebeneinander im Raume, die andere ein<lb/> Nacheinander in der Zeit — daß beinahe alle solche Vergleiche schief aus¬<lb/> fallen müssen. Und gerade in der Musik hat sich Bruno Meyer in höchst<lb/> unglückliche Parallelen verrannt. Der Kupferstecher ist schaffender Künstler<lb/> wie der Maler, dessen Bild er sticht, der Virtuos ist blos darstellender<lb/> Künstler. Der Kupferstecher schafft auf dieselbe Weise wie der Maler, nur<lb/> mit andern Mitteln : der eine auf der Leinwand mit Farbe und Pinsel, der an¬<lb/> dere zum Zwecke der Vervielfältigung mit dem Stichel oder der Radirnadel<lb/> auf der Platte. Es ist völlig unfaßbar, wie man damit die Thätigkeit des<lb/> Virtuosen vergleichen kann. Wenn wirklich das Verständniß von dem Wesen<lb/> der beiden Künste ohne solche Parallele nicht vermittelt werden könnte — was<lb/> wir entschieden in Abrede stellen — so läge doch ein anderer Vergleich viel<lb/> näher. Ungefähr nämlich besteht zwischen dem Maler und dem<lb/> Stecher ein und desselben Bildes ein ähnliches Verhältniß wie zwischen dem<lb/> Komponisten und dem Arrangeur. Wer ein Gemälde auf die Platte über¬<lb/> trägt, übt eine ähnliche nachschaffende Thätigkeit aus, wie der, der ein<lb/> Orchesterwerk für Clavier arrangirt. Beides ist keine bloß mechanische Ueber-<lb/> tragung, sondern in der That eine Art schöpferischer Thätigkeit. Verleitet<lb/> worden ist Bruno Meyer zu der verkehrten Parallele augenscheinlich durch<lb/> seinen Mangel an praktischer Erfahrung in der Musik. Er kann sich nicht<lb/> vorstellen, daß eben so, wie Jemand vom stillen Lesen eines Gedichtes Ge¬<lb/> nuß haben kann, der Musiker ein Tonstück still lesend genießen könne; er<lb/> behauptet, das musikalische Kunstwerk bedürfe in jedem Falle eines Ver¬<lb/> mittlers, der es in die hörbare Realität wirklicher Töne übertrage, und sei<lb/> es auch nur die „andeutende Abbreviatur" des Claviers oder die leise summende<lb/> menschliche Stimme; ohne diesen Vermittler sei und bleibe das Kunstwerk<lb/> todt. Ja, für den Laien todt, für Bruno Meyer todt, der sich durch diese<lb/> eine Aeußerung sofort als Laien verräth. Das stille Lesen einer Partitur ist<lb/> zweifellos ein größerer Genuß als das Anhören einer nicht ganz tadellosen Auf¬<lb/> führung, weil man mit dem geistigen Ohre alle Töne in absoluter Reinheit,<lb/> den Rhythmus in absoluter Präcision, kurz das Ideal einer Aufführung hört,<lb/> befreit von allen irdischen Zufälligkeiten. Einem Musiker braucht man das<lb/> nicht zu beweisen, einem Laien läßt sich's nicht beweisen, er muß das eben<lb/> auf Treu und Glauben hinnehmen. Wenn dieses Hören mit dem geistigen<lb/> Ohre nicht möglich wäre, wie hätte Beethoven trotz seiner Taubheit eine<lb/> Neunte Symphonie componiren können? Natürlich ist es ein gesteigerter Ge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0255]
begegnet uns schon hier ein sehr auffallender Vergleich: Bruno Meyer stellt den
vortragenden Virtuosen mit dem Kupferstecher in Parallele! Wir fragen:
Wozu überhaupt solche Analogieen? Musik und bildende Kunst haben so ganz
verschiedene Voraussetzungen, sie schaffen in so verschiedenen Stoffen und auf
so verschiedene Art — die eine ein Nebeneinander im Raume, die andere ein
Nacheinander in der Zeit — daß beinahe alle solche Vergleiche schief aus¬
fallen müssen. Und gerade in der Musik hat sich Bruno Meyer in höchst
unglückliche Parallelen verrannt. Der Kupferstecher ist schaffender Künstler
wie der Maler, dessen Bild er sticht, der Virtuos ist blos darstellender
Künstler. Der Kupferstecher schafft auf dieselbe Weise wie der Maler, nur
mit andern Mitteln : der eine auf der Leinwand mit Farbe und Pinsel, der an¬
dere zum Zwecke der Vervielfältigung mit dem Stichel oder der Radirnadel
auf der Platte. Es ist völlig unfaßbar, wie man damit die Thätigkeit des
Virtuosen vergleichen kann. Wenn wirklich das Verständniß von dem Wesen
der beiden Künste ohne solche Parallele nicht vermittelt werden könnte — was
wir entschieden in Abrede stellen — so läge doch ein anderer Vergleich viel
näher. Ungefähr nämlich besteht zwischen dem Maler und dem
Stecher ein und desselben Bildes ein ähnliches Verhältniß wie zwischen dem
Komponisten und dem Arrangeur. Wer ein Gemälde auf die Platte über¬
trägt, übt eine ähnliche nachschaffende Thätigkeit aus, wie der, der ein
Orchesterwerk für Clavier arrangirt. Beides ist keine bloß mechanische Ueber-
tragung, sondern in der That eine Art schöpferischer Thätigkeit. Verleitet
worden ist Bruno Meyer zu der verkehrten Parallele augenscheinlich durch
seinen Mangel an praktischer Erfahrung in der Musik. Er kann sich nicht
vorstellen, daß eben so, wie Jemand vom stillen Lesen eines Gedichtes Ge¬
nuß haben kann, der Musiker ein Tonstück still lesend genießen könne; er
behauptet, das musikalische Kunstwerk bedürfe in jedem Falle eines Ver¬
mittlers, der es in die hörbare Realität wirklicher Töne übertrage, und sei
es auch nur die „andeutende Abbreviatur" des Claviers oder die leise summende
menschliche Stimme; ohne diesen Vermittler sei und bleibe das Kunstwerk
todt. Ja, für den Laien todt, für Bruno Meyer todt, der sich durch diese
eine Aeußerung sofort als Laien verräth. Das stille Lesen einer Partitur ist
zweifellos ein größerer Genuß als das Anhören einer nicht ganz tadellosen Auf¬
führung, weil man mit dem geistigen Ohre alle Töne in absoluter Reinheit,
den Rhythmus in absoluter Präcision, kurz das Ideal einer Aufführung hört,
befreit von allen irdischen Zufälligkeiten. Einem Musiker braucht man das
nicht zu beweisen, einem Laien läßt sich's nicht beweisen, er muß das eben
auf Treu und Glauben hinnehmen. Wenn dieses Hören mit dem geistigen
Ohre nicht möglich wäre, wie hätte Beethoven trotz seiner Taubheit eine
Neunte Symphonie componiren können? Natürlich ist es ein gesteigerter Ge-
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