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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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rriebenes Bilderbegucken." Am meisten disputabel aber erscheinen uns seine Aus¬
lassungen über Sprache und Musik. Hier wollen wir ewige Punkte her¬
ausgreifen.

Mit kräftiger Ueberzeugung und mit überzeugender Kraft tritt Bruno
Meyer für die hohe und durch keinen anderen Unterrichtsstoff zu ersetzende
Pädagogische Bedeutung der Sprache in die Schranken. Nach drei Seiten
betrachteter sie: mit Rücksicht auf die Grammatik, auf die Stilistik und aus die
Kunstschätze der Literatur.

Auf unseren grammatischen Unterricht ist nun Bruno Meyer sehr
übel zu sprechen; er nennt die Grammatik, wie sie,auf den Schulen gelehrt
werde, "eine Rumpelkammer voll geistloser, zum Theil grundfalscher, großen-
thetls antiauirter Darstellungen der Aeußerlichkeiten sprachlicher Erscheinun¬
gen" und die Grammatiker "Herbarien der Sprachformen, in denen sie aus
dem Zusammenhang gerissen und systematisch sortirt fix und fertig neben ein¬
ander liegen"; "auf das stachliche Drahtgerippe von Paradigmen und Regeln
gebracht" erscheine die Sprache als "ein wüstes Gemenge von Zufälligkeiten
und Willkürlichkeiten". Statt dessen gelte es aber vielmehr das Wesen der
Sprache zu erkennen; und zwar dürfe diese Erkenntniß nicht als die Spitze,
sondern sie müsse als die Basis alles sprachlichen Unterrichts angesehen wer¬
den. Der Weg, der von den einzelnen grammatischen Formen ausgehe, sei
ein Irrweg; er gebe ein Uebermaaß von Mitteln ohne eine Idee von dem
Zwecke, dem sie dienen, und hinterdrein Zwecke, deren natürlicher Zusammen¬
hang mit den Mitteln zerrissen sei und nur mit Hülfe von lauter einzelnen
Anknüpfungen nothdürftig ersetzt werde. Der Gedanke sei das erste, von ihm
müsse ausgegangen und die sprachliche Form für ihn gefunden werden. Nur
diejenigen Formen, deren Nothwendigkeit und eventueller Gebrauch klar vor
Augen liege, dürfen gelernt werden. So werde die Sprache vor dem Auge
des Lernenden gewissermaßen erfunden. Endlich müsse man auch auf die
Bedeutung, die Entstehung und die Bildungsgesetze der Formen eingehen.

Hierin ist zweierlei auseinander zu halten, eine Umgestaltung der Me¬
thode und eine Verminderung, beziehentlich Vermehrung des Stoffes. Wenn
Wir Bruno Meyer recht verstehen, so ist er ein Anhänger der kurzweg soge¬
nannten analytischen Methode. Dem Schüler soll die Grammatik nicht als
etwas Fertiges entgegengebracht werden, sondern er soll, von dem Gedanken,
^so etwa von dem Texte eines Schriftstellers ausgehend, das Gebäude der
Grammatik sich selbst errichten. Das klingt außerordentlich verlockend, ist aber
in der Ausführung mit den unübersteiglichsten Schwierigkeiten verknüpft. Die
Erfahrung hat es gelehrt. Bruno Meyer bedauert unendlich -- wir auch -.
daß er nicht durch Beispiele der Sache mehr Anschaulichkeit geben könne; er
weint, das werde ihn zu weit führen. O ja, viel, viel zu weit! Hier und


rriebenes Bilderbegucken." Am meisten disputabel aber erscheinen uns seine Aus¬
lassungen über Sprache und Musik. Hier wollen wir ewige Punkte her¬
ausgreifen.

Mit kräftiger Ueberzeugung und mit überzeugender Kraft tritt Bruno
Meyer für die hohe und durch keinen anderen Unterrichtsstoff zu ersetzende
Pädagogische Bedeutung der Sprache in die Schranken. Nach drei Seiten
betrachteter sie: mit Rücksicht auf die Grammatik, auf die Stilistik und aus die
Kunstschätze der Literatur.

Auf unseren grammatischen Unterricht ist nun Bruno Meyer sehr
übel zu sprechen; er nennt die Grammatik, wie sie,auf den Schulen gelehrt
werde, „eine Rumpelkammer voll geistloser, zum Theil grundfalscher, großen-
thetls antiauirter Darstellungen der Aeußerlichkeiten sprachlicher Erscheinun¬
gen" und die Grammatiker „Herbarien der Sprachformen, in denen sie aus
dem Zusammenhang gerissen und systematisch sortirt fix und fertig neben ein¬
ander liegen"; „auf das stachliche Drahtgerippe von Paradigmen und Regeln
gebracht" erscheine die Sprache als „ein wüstes Gemenge von Zufälligkeiten
und Willkürlichkeiten". Statt dessen gelte es aber vielmehr das Wesen der
Sprache zu erkennen; und zwar dürfe diese Erkenntniß nicht als die Spitze,
sondern sie müsse als die Basis alles sprachlichen Unterrichts angesehen wer¬
den. Der Weg, der von den einzelnen grammatischen Formen ausgehe, sei
ein Irrweg; er gebe ein Uebermaaß von Mitteln ohne eine Idee von dem
Zwecke, dem sie dienen, und hinterdrein Zwecke, deren natürlicher Zusammen¬
hang mit den Mitteln zerrissen sei und nur mit Hülfe von lauter einzelnen
Anknüpfungen nothdürftig ersetzt werde. Der Gedanke sei das erste, von ihm
müsse ausgegangen und die sprachliche Form für ihn gefunden werden. Nur
diejenigen Formen, deren Nothwendigkeit und eventueller Gebrauch klar vor
Augen liege, dürfen gelernt werden. So werde die Sprache vor dem Auge
des Lernenden gewissermaßen erfunden. Endlich müsse man auch auf die
Bedeutung, die Entstehung und die Bildungsgesetze der Formen eingehen.

Hierin ist zweierlei auseinander zu halten, eine Umgestaltung der Me¬
thode und eine Verminderung, beziehentlich Vermehrung des Stoffes. Wenn
Wir Bruno Meyer recht verstehen, so ist er ein Anhänger der kurzweg soge¬
nannten analytischen Methode. Dem Schüler soll die Grammatik nicht als
etwas Fertiges entgegengebracht werden, sondern er soll, von dem Gedanken,
^so etwa von dem Texte eines Schriftstellers ausgehend, das Gebäude der
Grammatik sich selbst errichten. Das klingt außerordentlich verlockend, ist aber
in der Ausführung mit den unübersteiglichsten Schwierigkeiten verknüpft. Die
Erfahrung hat es gelehrt. Bruno Meyer bedauert unendlich — wir auch -.
daß er nicht durch Beispiele der Sache mehr Anschaulichkeit geben könne; er
weint, das werde ihn zu weit führen. O ja, viel, viel zu weit! Hier und


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[0251] rriebenes Bilderbegucken." Am meisten disputabel aber erscheinen uns seine Aus¬ lassungen über Sprache und Musik. Hier wollen wir ewige Punkte her¬ ausgreifen. Mit kräftiger Ueberzeugung und mit überzeugender Kraft tritt Bruno Meyer für die hohe und durch keinen anderen Unterrichtsstoff zu ersetzende Pädagogische Bedeutung der Sprache in die Schranken. Nach drei Seiten betrachteter sie: mit Rücksicht auf die Grammatik, auf die Stilistik und aus die Kunstschätze der Literatur. Auf unseren grammatischen Unterricht ist nun Bruno Meyer sehr übel zu sprechen; er nennt die Grammatik, wie sie,auf den Schulen gelehrt werde, „eine Rumpelkammer voll geistloser, zum Theil grundfalscher, großen- thetls antiauirter Darstellungen der Aeußerlichkeiten sprachlicher Erscheinun¬ gen" und die Grammatiker „Herbarien der Sprachformen, in denen sie aus dem Zusammenhang gerissen und systematisch sortirt fix und fertig neben ein¬ ander liegen"; „auf das stachliche Drahtgerippe von Paradigmen und Regeln gebracht" erscheine die Sprache als „ein wüstes Gemenge von Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten". Statt dessen gelte es aber vielmehr das Wesen der Sprache zu erkennen; und zwar dürfe diese Erkenntniß nicht als die Spitze, sondern sie müsse als die Basis alles sprachlichen Unterrichts angesehen wer¬ den. Der Weg, der von den einzelnen grammatischen Formen ausgehe, sei ein Irrweg; er gebe ein Uebermaaß von Mitteln ohne eine Idee von dem Zwecke, dem sie dienen, und hinterdrein Zwecke, deren natürlicher Zusammen¬ hang mit den Mitteln zerrissen sei und nur mit Hülfe von lauter einzelnen Anknüpfungen nothdürftig ersetzt werde. Der Gedanke sei das erste, von ihm müsse ausgegangen und die sprachliche Form für ihn gefunden werden. Nur diejenigen Formen, deren Nothwendigkeit und eventueller Gebrauch klar vor Augen liege, dürfen gelernt werden. So werde die Sprache vor dem Auge des Lernenden gewissermaßen erfunden. Endlich müsse man auch auf die Bedeutung, die Entstehung und die Bildungsgesetze der Formen eingehen. Hierin ist zweierlei auseinander zu halten, eine Umgestaltung der Me¬ thode und eine Verminderung, beziehentlich Vermehrung des Stoffes. Wenn Wir Bruno Meyer recht verstehen, so ist er ein Anhänger der kurzweg soge¬ nannten analytischen Methode. Dem Schüler soll die Grammatik nicht als etwas Fertiges entgegengebracht werden, sondern er soll, von dem Gedanken, ^so etwa von dem Texte eines Schriftstellers ausgehend, das Gebäude der Grammatik sich selbst errichten. Das klingt außerordentlich verlockend, ist aber in der Ausführung mit den unübersteiglichsten Schwierigkeiten verknüpft. Die Erfahrung hat es gelehrt. Bruno Meyer bedauert unendlich — wir auch -. daß er nicht durch Beispiele der Sache mehr Anschaulichkeit geben könne; er weint, das werde ihn zu weit führen. O ja, viel, viel zu weit! Hier und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/251>, abgerufen am 06.02.2025.