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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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auf das in Deutschland zunehmende Bestreben hingewiesen wird, eine ein¬
heitliche deutsche Orthographie zu schaffen, sagt der Recensent, ein Jeder
suche sich nicht allein seine besondere Schreibweise zurecht zu machen, sondern
mit echt deutscher Gründlichkeit glaube Jeder, eine wissenschaftliche Grund¬
lage für sein Nechtschreibungssystem aufstellen zu müssen. Was das schrei¬
bende Publikum anbetrifft, so möchten wohl nur Einzelne ein derartiges Lob
verdienen, die große Mehrzahl wird man vielmehr zu großer Gleichgültigkeit
in dieser Beziehung zeihen dürfen. Dagegen haben bekanntlich die Versuche
der Sprachforscher einheitliche Ordnung und Gesetzmäßigkeit in die deutsche
Rechtschreibung einzuführen, namentlich nach dem Lichte, welches Jacob
Grimm über die deutsche Sprachforschung verbreitet hat, eine gleichmäßigere
Richtung und festere Grundlage gewonnen (E. K. G. Umdrehen. Ueber deutsche
Orthographie, Mainz 1886. Derselbe, Ueber Jac. Grimm's Orthographie.
Göttingen, 1867, or.H. Michaelis. Ueber Jacob Grimm's Rechtschreibung, u. a.)
Nur ist die Schwierigkeit zu groß', für die ganze deutsche Nation in kurzer
Zeit ein völlig verändertes System der Rechtschreibung einführen zu wollen.

Der Verfasser der Recension in der Weserzeitung meint, man brauche
nur eine beliebige Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften mit einander zu
vergleichen, um die Dringlichkeit des Bedürfnisses einer herzustellenden ein¬
heitlichen Orthographie für Deutschland zu erkennen, und darin hat er in
mehr als einer Hinsicht Recht. Es wäre sehr zu wünschen, daß der von ihm
erwähnte wissenschaftliche Eifer für die Begründung von Systemen der Recht¬
schreibung auch bei den Herausgebern der deutschen Zeitungen und ihren Mit¬
arbeitern und Korrespondenten vorhanden sein möchte, da sie vor Allen Ge-
legenheit und daher auch den Beruf ja die Pflicht haben, den nicht eigentlich
wissenschaftlich gebildeten Volksklassen bei Benutzung ihrer Muttersprache als
Vorbilder zu dienen, und zwar in dem Sinne, daß dabei nicht allein auf
die Beseitigung der Schwankungen in der deutschen Orthographie, sondern
was noch wichtiger erscheint, auf die einfache Befolgung der
feststehenden Regeln der Wortlehre und Syntax achten möch¬
ten; denn hier liegen die Dinge thatsächlich noch sehr im Argen, und wenn
man deutsche Zeitungen (von einzelnen ehrenvollen Ausnahmen abgesehen)
mit englischen, amerikanischen, französischen, ja spanischen und italienischen
vergleicht, so wird man keinerlei Veranlassung finden, der oft gerühmten
deutschen Gründlichkeit und Wissenschaftlichkeit zu gedenken. Es ist That¬
sache, daß nur eine geringe Minderzahl von Zeitungsschreibern sich hierin in
verdienstlicher Weise von der großen Menge unterscheiden, welcher man kaum
zu nahe treten würde, wenn man sie geradezu als Sprachverderber bezeichnete.
Daher hatte es seinen guten Grund, wenn vor einigen Monaten die An¬
kündigung einer neu gegründeten politischen Zeitung es als einen ihrer Vor-


auf das in Deutschland zunehmende Bestreben hingewiesen wird, eine ein¬
heitliche deutsche Orthographie zu schaffen, sagt der Recensent, ein Jeder
suche sich nicht allein seine besondere Schreibweise zurecht zu machen, sondern
mit echt deutscher Gründlichkeit glaube Jeder, eine wissenschaftliche Grund¬
lage für sein Nechtschreibungssystem aufstellen zu müssen. Was das schrei¬
bende Publikum anbetrifft, so möchten wohl nur Einzelne ein derartiges Lob
verdienen, die große Mehrzahl wird man vielmehr zu großer Gleichgültigkeit
in dieser Beziehung zeihen dürfen. Dagegen haben bekanntlich die Versuche
der Sprachforscher einheitliche Ordnung und Gesetzmäßigkeit in die deutsche
Rechtschreibung einzuführen, namentlich nach dem Lichte, welches Jacob
Grimm über die deutsche Sprachforschung verbreitet hat, eine gleichmäßigere
Richtung und festere Grundlage gewonnen (E. K. G. Umdrehen. Ueber deutsche
Orthographie, Mainz 1886. Derselbe, Ueber Jac. Grimm's Orthographie.
Göttingen, 1867, or.H. Michaelis. Ueber Jacob Grimm's Rechtschreibung, u. a.)
Nur ist die Schwierigkeit zu groß', für die ganze deutsche Nation in kurzer
Zeit ein völlig verändertes System der Rechtschreibung einführen zu wollen.

Der Verfasser der Recension in der Weserzeitung meint, man brauche
nur eine beliebige Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften mit einander zu
vergleichen, um die Dringlichkeit des Bedürfnisses einer herzustellenden ein¬
heitlichen Orthographie für Deutschland zu erkennen, und darin hat er in
mehr als einer Hinsicht Recht. Es wäre sehr zu wünschen, daß der von ihm
erwähnte wissenschaftliche Eifer für die Begründung von Systemen der Recht¬
schreibung auch bei den Herausgebern der deutschen Zeitungen und ihren Mit¬
arbeitern und Korrespondenten vorhanden sein möchte, da sie vor Allen Ge-
legenheit und daher auch den Beruf ja die Pflicht haben, den nicht eigentlich
wissenschaftlich gebildeten Volksklassen bei Benutzung ihrer Muttersprache als
Vorbilder zu dienen, und zwar in dem Sinne, daß dabei nicht allein auf
die Beseitigung der Schwankungen in der deutschen Orthographie, sondern
was noch wichtiger erscheint, auf die einfache Befolgung der
feststehenden Regeln der Wortlehre und Syntax achten möch¬
ten; denn hier liegen die Dinge thatsächlich noch sehr im Argen, und wenn
man deutsche Zeitungen (von einzelnen ehrenvollen Ausnahmen abgesehen)
mit englischen, amerikanischen, französischen, ja spanischen und italienischen
vergleicht, so wird man keinerlei Veranlassung finden, der oft gerühmten
deutschen Gründlichkeit und Wissenschaftlichkeit zu gedenken. Es ist That¬
sache, daß nur eine geringe Minderzahl von Zeitungsschreibern sich hierin in
verdienstlicher Weise von der großen Menge unterscheiden, welcher man kaum
zu nahe treten würde, wenn man sie geradezu als Sprachverderber bezeichnete.
Daher hatte es seinen guten Grund, wenn vor einigen Monaten die An¬
kündigung einer neu gegründeten politischen Zeitung es als einen ihrer Vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/245>, abgerufen am 06.02.2025.