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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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naeit findet. Es ist gewiß für ein Schulbuch wenig empfehlenswert!), wenn
in demselben consequent die falsche Jmpersectform "ich sahe" und "er sahe"
statt "sah" angewendet wird, und es scheint kein Druckfehler zu sein, wenn
es S, 77 heißt: Laß dem Entschlafenen die Wonne deiner Seligkeit schmecken,
oder S, 84: "Er sprach im ernsten, aber milden Ton."

Aber was soll man erst zu Sätzen sagen, wie die folgenden: "Dädalus
wurde später selbst mit seinem Sohne Ikarus in das Labyrinth gesperrt.
Um als Baumeister nicht etwa den Ausga ng finden zu können (!)
wurden die Zimmer fest verschlossen!" (S. 89), oder (am Schluß
eines Musterbriefes): "In der Hoffnung, meine (!) Erinnerung nicht
unfreundlich aufzunehmen (!) sieht einer recht baldigen Er¬
füllung entgegen Dein u. f. w." (S. 149).

Doch es ist hier nicht der Ort, diesem deutschen Musterschriftsteller das
Pensum durchzucorrigiren. Diese Beispiele, die sich leicht um Dutzende
vermehren ließen, mögen genügen, um einen Begriff zu geben von der Nai¬
vetät, mit welcher ein Dresdner Schuldirector in einem Schulbuch unsere
deutsche Muttersprache mißhandelt.

Derselbe Biedermann hat sich auch mit einer "Geschichte des König¬
reichs Sachsen für den Unterricht in vaterländischen Schulen"
(Leipzig, Verlag von Julius Klinkhardt, 1868) ein unvergängliches Denkmal
gesetzt. In diesem Buch wird in der loyalen Verherrlichung des echten
Sachsenthums und in der beliebten Vertuschung aller Schattenseiten der säch¬
sischen Politik Großes geleistet, und dies alles in einem Stil, an dem unsere
Ranke, Sybel u. s. w. erst lernen sollten, wie man bieder frisch und fromm
Geschichte schreibt. Wie schön heißt es z. B. S. 118 von Carl V. "Die
süße Hoffnung Deutschland recht bald entkräftet zu seinen Füßen liegen zu
sehen, hatte sich wie eine Seifenblase in Nichts aufgelöst. Am Leibe
krank, umklammerte zugleich seinen Geist Trübsinn wie ein peinigen¬
der Alp." -- oder S. 376 von der Leipziger Schlacht: "Obgleich das
Uebergewicht auf Seite der Verbündeten zu finden war, so gehörte diese Ar¬
beit doch zu einer Niesenaufgabe (!), und die Ansicht derer, die da meinen, es
sei bei solcher Uebermacht mit dem Ruhm der Sieger nicht weit her (!), ist
eine irrige. Einen Gegner zu bekämpfen, dessen Feldherrntalent das aller
übrigen Heerführer überstrahlte, war in der That keine Kleinigkeit (!)." --
In ähnlichen Geschmacklosigkeiten bewegt sich das ganze Buch von Anfang
bis zu Ende. Charakteristisch ist, daß es seinen letzten Abschnitt mit der
"Kartoffelkrankheit" schließt. Der Leser, von all den Abgeschmackt¬
heiten gründlich angewidert, kann sich dem Eindruck nicht verschließen, daß
dieses Buch ein letzter Ausläufer jener verhängnisvollen Seuche sein müsse.

Was aber jeden deutschgesinnten und nicht in kleinlichen Particularismus


naeit findet. Es ist gewiß für ein Schulbuch wenig empfehlenswert!), wenn
in demselben consequent die falsche Jmpersectform „ich sahe" und „er sahe"
statt „sah" angewendet wird, und es scheint kein Druckfehler zu sein, wenn
es S, 77 heißt: Laß dem Entschlafenen die Wonne deiner Seligkeit schmecken,
oder S, 84: „Er sprach im ernsten, aber milden Ton."

Aber was soll man erst zu Sätzen sagen, wie die folgenden: „Dädalus
wurde später selbst mit seinem Sohne Ikarus in das Labyrinth gesperrt.
Um als Baumeister nicht etwa den Ausga ng finden zu können (!)
wurden die Zimmer fest verschlossen!" (S. 89), oder (am Schluß
eines Musterbriefes): „In der Hoffnung, meine (!) Erinnerung nicht
unfreundlich aufzunehmen (!) sieht einer recht baldigen Er¬
füllung entgegen Dein u. f. w." (S. 149).

Doch es ist hier nicht der Ort, diesem deutschen Musterschriftsteller das
Pensum durchzucorrigiren. Diese Beispiele, die sich leicht um Dutzende
vermehren ließen, mögen genügen, um einen Begriff zu geben von der Nai¬
vetät, mit welcher ein Dresdner Schuldirector in einem Schulbuch unsere
deutsche Muttersprache mißhandelt.

Derselbe Biedermann hat sich auch mit einer „Geschichte des König¬
reichs Sachsen für den Unterricht in vaterländischen Schulen"
(Leipzig, Verlag von Julius Klinkhardt, 1868) ein unvergängliches Denkmal
gesetzt. In diesem Buch wird in der loyalen Verherrlichung des echten
Sachsenthums und in der beliebten Vertuschung aller Schattenseiten der säch¬
sischen Politik Großes geleistet, und dies alles in einem Stil, an dem unsere
Ranke, Sybel u. s. w. erst lernen sollten, wie man bieder frisch und fromm
Geschichte schreibt. Wie schön heißt es z. B. S. 118 von Carl V. „Die
süße Hoffnung Deutschland recht bald entkräftet zu seinen Füßen liegen zu
sehen, hatte sich wie eine Seifenblase in Nichts aufgelöst. Am Leibe
krank, umklammerte zugleich seinen Geist Trübsinn wie ein peinigen¬
der Alp." — oder S. 376 von der Leipziger Schlacht: „Obgleich das
Uebergewicht auf Seite der Verbündeten zu finden war, so gehörte diese Ar¬
beit doch zu einer Niesenaufgabe (!), und die Ansicht derer, die da meinen, es
sei bei solcher Uebermacht mit dem Ruhm der Sieger nicht weit her (!), ist
eine irrige. Einen Gegner zu bekämpfen, dessen Feldherrntalent das aller
übrigen Heerführer überstrahlte, war in der That keine Kleinigkeit (!)." —
In ähnlichen Geschmacklosigkeiten bewegt sich das ganze Buch von Anfang
bis zu Ende. Charakteristisch ist, daß es seinen letzten Abschnitt mit der
„Kartoffelkrankheit" schließt. Der Leser, von all den Abgeschmackt¬
heiten gründlich angewidert, kann sich dem Eindruck nicht verschließen, daß
dieses Buch ein letzter Ausläufer jener verhängnisvollen Seuche sein müsse.

Was aber jeden deutschgesinnten und nicht in kleinlichen Particularismus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/230>, abgerufen am 06.02.2025.