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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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schlungen und übten auf den Geschmack der Zeit den verderblichsten Einfluß
aus. Denn in diesen gräßlichen Stücken wird der Mensch abhängig gemacht
von einem unvermeidlichen, durch nichts sittliches und Vernünftiges gerecht¬
fertigten Geschick. Die erhabene antike Schicksalsidee ist hier karrikirt. Bei
den Alten ist das Schicksal nicht das blinde, sondern das gerecht richtende,
noch über Zeus stehende Fatum, das auf die Schuld die Strafe folgen läßt.
Dazu hat das griechische Individuum noch nicht das Bewußtsein der unend¬
lichen Freiheit, wie das christliche; es macht noch keinen Unterschied zwischen
dem, was es bei seiner That beabsichtigt hat, und dem, was geschieht. Alle
Folgen seiner That sieht es als Schuld an. Wenn das Schicksal etwas über
den Menschen verhängt, so trägt er das als seine gerechte Strafe, denn das
Schicksal ist ihm kein Zufall, sondern göttliche Vorsehung.

Was machen aber die deutschen Schicksalsdichter aus dem Schicksal? Den
absoluten Zufall, ein charakter-und geistloses Gespenst, eine wahnwitzige Laune.
In ihren Stücken kommt es nicht in Folge einer tragischen Verschuldung zur
Katastrophe, da ist sie nicht das verständige, nothwendige Resultat eines or¬
ganisch sich entwickelnden Komplexes von Thaten, sondern da ist das tragische
Motiv ein Traum, ein Datum, eine gesprungene Saite, oder es fließen die
traurigen Metzeleien aus der trüben Quelle des somnambulen Zustandes, wenn
nicht des offenbaren Wahnsinns. Sprach sich doch schon Jean Paul dahin aus,
daß von den Tragödien des nicht verstandesreifen Werner bis zu denen des
verstandesüberreifen Müllner ein lustiger Wahnwitz die Charaktere und einen
Theil der Geschichte regiere, deren Schauplatz eigentlich im Unendlichen sei,
weil verrückte und verrückbare Charaktere jede Handlung, die man wolle, mo-
tiviren können! Das ist die unselige, deutsche Schicksaltragödie! Wie mußte
die, zumal im Theater angeschaut, den Sinn des Publikums verwirren! Und
sie hat ihn verwirrt. Viele Zeitgenossen bezeugen es, daß das Publikum diese
Reizmittel eines verdorbenen Geschmacks mit unglaublicher Begierde hinab¬
schlang. Jean Paul sagt etwas derb aber wahr, daß die Belladonna in
Deutschland die Muse ward und daß die Lesewelt, gläubig wie das Morgen¬
land, die Verrückte als Heilige verehrte.

Gegen solche Dichter also und gegen ein solches Publikum zog Platen
zu Felde. Ob er Recht daran that? Ohne Zweifel, ja man wird nicht an¬
stehen, sein Vorgehen für eine That zu erklären. Der gräulichste Ungeschmack
war auf dem Gebiete des deutschen Dramas heimisch geworden, das Wider¬
spiel aller Poesie hatte Platz gegriffen: Respekt vor dem Manne, der sich von
dem allgemeinen Verderben nicht anstecken ließ, der vielmehr mit kühnem
Muthe ideale Interessen zu vertheidigen, die verschütteten Quellen wahren Ge¬
schmacks und edler Dichtung wieder aufzudecken und dem deutschen Volke über
sich und seine Verderber die Augen zu öffnen wagte. Es ist wahr. Platen


Grenzboten 1873. in. 27

schlungen und übten auf den Geschmack der Zeit den verderblichsten Einfluß
aus. Denn in diesen gräßlichen Stücken wird der Mensch abhängig gemacht
von einem unvermeidlichen, durch nichts sittliches und Vernünftiges gerecht¬
fertigten Geschick. Die erhabene antike Schicksalsidee ist hier karrikirt. Bei
den Alten ist das Schicksal nicht das blinde, sondern das gerecht richtende,
noch über Zeus stehende Fatum, das auf die Schuld die Strafe folgen läßt.
Dazu hat das griechische Individuum noch nicht das Bewußtsein der unend¬
lichen Freiheit, wie das christliche; es macht noch keinen Unterschied zwischen
dem, was es bei seiner That beabsichtigt hat, und dem, was geschieht. Alle
Folgen seiner That sieht es als Schuld an. Wenn das Schicksal etwas über
den Menschen verhängt, so trägt er das als seine gerechte Strafe, denn das
Schicksal ist ihm kein Zufall, sondern göttliche Vorsehung.

Was machen aber die deutschen Schicksalsdichter aus dem Schicksal? Den
absoluten Zufall, ein charakter-und geistloses Gespenst, eine wahnwitzige Laune.
In ihren Stücken kommt es nicht in Folge einer tragischen Verschuldung zur
Katastrophe, da ist sie nicht das verständige, nothwendige Resultat eines or¬
ganisch sich entwickelnden Komplexes von Thaten, sondern da ist das tragische
Motiv ein Traum, ein Datum, eine gesprungene Saite, oder es fließen die
traurigen Metzeleien aus der trüben Quelle des somnambulen Zustandes, wenn
nicht des offenbaren Wahnsinns. Sprach sich doch schon Jean Paul dahin aus,
daß von den Tragödien des nicht verstandesreifen Werner bis zu denen des
verstandesüberreifen Müllner ein lustiger Wahnwitz die Charaktere und einen
Theil der Geschichte regiere, deren Schauplatz eigentlich im Unendlichen sei,
weil verrückte und verrückbare Charaktere jede Handlung, die man wolle, mo-
tiviren können! Das ist die unselige, deutsche Schicksaltragödie! Wie mußte
die, zumal im Theater angeschaut, den Sinn des Publikums verwirren! Und
sie hat ihn verwirrt. Viele Zeitgenossen bezeugen es, daß das Publikum diese
Reizmittel eines verdorbenen Geschmacks mit unglaublicher Begierde hinab¬
schlang. Jean Paul sagt etwas derb aber wahr, daß die Belladonna in
Deutschland die Muse ward und daß die Lesewelt, gläubig wie das Morgen¬
land, die Verrückte als Heilige verehrte.

Gegen solche Dichter also und gegen ein solches Publikum zog Platen
zu Felde. Ob er Recht daran that? Ohne Zweifel, ja man wird nicht an¬
stehen, sein Vorgehen für eine That zu erklären. Der gräulichste Ungeschmack
war auf dem Gebiete des deutschen Dramas heimisch geworden, das Wider¬
spiel aller Poesie hatte Platz gegriffen: Respekt vor dem Manne, der sich von
dem allgemeinen Verderben nicht anstecken ließ, der vielmehr mit kühnem
Muthe ideale Interessen zu vertheidigen, die verschütteten Quellen wahren Ge¬
schmacks und edler Dichtung wieder aufzudecken und dem deutschen Volke über
sich und seine Verderber die Augen zu öffnen wagte. Es ist wahr. Platen


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[0217] schlungen und übten auf den Geschmack der Zeit den verderblichsten Einfluß aus. Denn in diesen gräßlichen Stücken wird der Mensch abhängig gemacht von einem unvermeidlichen, durch nichts sittliches und Vernünftiges gerecht¬ fertigten Geschick. Die erhabene antike Schicksalsidee ist hier karrikirt. Bei den Alten ist das Schicksal nicht das blinde, sondern das gerecht richtende, noch über Zeus stehende Fatum, das auf die Schuld die Strafe folgen läßt. Dazu hat das griechische Individuum noch nicht das Bewußtsein der unend¬ lichen Freiheit, wie das christliche; es macht noch keinen Unterschied zwischen dem, was es bei seiner That beabsichtigt hat, und dem, was geschieht. Alle Folgen seiner That sieht es als Schuld an. Wenn das Schicksal etwas über den Menschen verhängt, so trägt er das als seine gerechte Strafe, denn das Schicksal ist ihm kein Zufall, sondern göttliche Vorsehung. Was machen aber die deutschen Schicksalsdichter aus dem Schicksal? Den absoluten Zufall, ein charakter-und geistloses Gespenst, eine wahnwitzige Laune. In ihren Stücken kommt es nicht in Folge einer tragischen Verschuldung zur Katastrophe, da ist sie nicht das verständige, nothwendige Resultat eines or¬ ganisch sich entwickelnden Komplexes von Thaten, sondern da ist das tragische Motiv ein Traum, ein Datum, eine gesprungene Saite, oder es fließen die traurigen Metzeleien aus der trüben Quelle des somnambulen Zustandes, wenn nicht des offenbaren Wahnsinns. Sprach sich doch schon Jean Paul dahin aus, daß von den Tragödien des nicht verstandesreifen Werner bis zu denen des verstandesüberreifen Müllner ein lustiger Wahnwitz die Charaktere und einen Theil der Geschichte regiere, deren Schauplatz eigentlich im Unendlichen sei, weil verrückte und verrückbare Charaktere jede Handlung, die man wolle, mo- tiviren können! Das ist die unselige, deutsche Schicksaltragödie! Wie mußte die, zumal im Theater angeschaut, den Sinn des Publikums verwirren! Und sie hat ihn verwirrt. Viele Zeitgenossen bezeugen es, daß das Publikum diese Reizmittel eines verdorbenen Geschmacks mit unglaublicher Begierde hinab¬ schlang. Jean Paul sagt etwas derb aber wahr, daß die Belladonna in Deutschland die Muse ward und daß die Lesewelt, gläubig wie das Morgen¬ land, die Verrückte als Heilige verehrte. Gegen solche Dichter also und gegen ein solches Publikum zog Platen zu Felde. Ob er Recht daran that? Ohne Zweifel, ja man wird nicht an¬ stehen, sein Vorgehen für eine That zu erklären. Der gräulichste Ungeschmack war auf dem Gebiete des deutschen Dramas heimisch geworden, das Wider¬ spiel aller Poesie hatte Platz gegriffen: Respekt vor dem Manne, der sich von dem allgemeinen Verderben nicht anstecken ließ, der vielmehr mit kühnem Muthe ideale Interessen zu vertheidigen, die verschütteten Quellen wahren Ge¬ schmacks und edler Dichtung wieder aufzudecken und dem deutschen Volke über sich und seine Verderber die Augen zu öffnen wagte. Es ist wahr. Platen Grenzboten 1873. in. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/217>, abgerufen am 06.02.2025.