Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.der alte Staat zertrümmert, nachdem die nlle Gesellschaft in den Schmelztiegel Auch der Verfasser ist durch den letzten Krieg zu einer erneuten Prüfung Ein zweiter Grund, der den Verfasser bestimmte, sein Werk einer voll¬ Grenzboten III. 1873.
der alte Staat zertrümmert, nachdem die nlle Gesellschaft in den Schmelztiegel Auch der Verfasser ist durch den letzten Krieg zu einer erneuten Prüfung Ein zweiter Grund, der den Verfasser bestimmte, sein Werk einer voll¬ Grenzboten III. 1873.
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192988"/> <p xml:id="ID_564" prev="#ID_563"> der alte Staat zertrümmert, nachdem die nlle Gesellschaft in den Schmelztiegel<lb/> des Gleichheitspcincips umgegossen ist, wer, sagen wir, verstehen will, daß<lb/> dies Frankreich, trotz aller Erschütterungen, trotz aller Verwüstungen, trotz<lb/> aller Ausschweifungen bald des rothen, bald des weißen Schreckens, trotz aller<lb/> Siegesglorie und trotz der furchtbarsten Niederlagen, heut noch vielfach die¬<lb/> selben Züge zeigt, wie vor hundert Jahren, wer verstehen will, wie es kommt,<lb/> daß die rastloseste Bewegung, welche die Geschichte kennt, sich stets in eng<lb/> begrenzten Kreisen vollzogen hat und immer wieder auf ihren Ausgangspunkt<lb/> zurückkehrt, der muß vor Allem die französischen Schriftsteller befragen- Wenn<lb/> aber die Geschichte der französischen Literatur ein wesentliches Hülfsmittel zur<lb/> Erkenntniß der französischen Gegenwart ist, so werfen andererseits die Ereig¬<lb/> nisse der jüngsten Gegenwart wieder ein Helles Licht auf die Vergangenheit;<lb/> was wir in den letzten Jahren gesehen und erlebt, das wird auch vielfach<lb/> auf unser Urtheil über das, was unsere Väter und Großväter erlebt, be¬<lb/> stimmend und maßgebend einwirken. Je weiter die Entwickelung fortschreitet,<lb/> um so deutlicher erkennen wir das Wesen des Kerns, von dem diese Ent¬<lb/> wickelung ihren Ausgang nimmt, und oft genug geben uns die Erschei¬<lb/> nungen der Gegenwart den Schlüsse.! für die Lösung der Räthsel der Ver¬<lb/> gangenheit.</p><lb/> <p xml:id="ID_565"> Auch der Verfasser ist durch den letzten Krieg zu einer erneuten Prüfung<lb/> seiner Arbeit veranlaßt worden. „Das französische Volk", sagt er in der<lb/> Vorrede „hat in diesem Kriege so merkwürdige Charakterzüge gezeigt, daß<lb/> wir genöthigt sind, unsere Vorstellung von ihm einer ernsten Revision zu<lb/> unterziehen. Die Literatur zeigt die Seele des Volkes zwar nur von einer<lb/> Seite, aber von einer sehr wichtigen. Die neuesten Ereignisse klären uns<lb/> über manches auf, was uns früher unverständlich war; ich habe meine Studien<lb/> ganz von Neuem begonnen, und das Werk ist ein völlig neues geworden."</p><lb/> <p xml:id="ID_566" next="#ID_567"> Ein zweiter Grund, der den Verfasser bestimmte, sein Werk einer voll¬<lb/> ständigen Umarbeitung zu unterziehen, entspringt der Umwandlung, welche<lb/> seine Ansicht über die Methode der literarhistorischen Darstellung erfahren<lb/> hat. Die herkömmliche Methode, nach welcher die einzelnen Schriftsteller in<lb/> gesonderter Darstellung behandelt werden, giebt, statt einer Literaturgeschichte<lb/> eine Sammlung von literarhistorischen Monographien. Es läßt sich nicht in<lb/> Abrede stellen, daß bei diesem Verfahren die großen literarischen Individua¬<lb/> litäten wohl zu ihrem Rechte kommen. Aber auch die bedeutendste Individua¬<lb/> lität ist von den allgemeinen Strömungen der Zeit bedingt, jede politische<lb/> und sociale Umwälzung übt ihren raschen und stürnnschen, jede allmäliche<lb/> Umwandlung des öffentlichen Geistes ihren langsam umbildenden Einfluß<lb/> auch auf die selbständigsten und energischsten dichterischen Individualitäten<lb/> aus. Ja, oft genug werden die Heroen der Literatur nicht minder, wie die</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1873.</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0185]
der alte Staat zertrümmert, nachdem die nlle Gesellschaft in den Schmelztiegel
des Gleichheitspcincips umgegossen ist, wer, sagen wir, verstehen will, daß
dies Frankreich, trotz aller Erschütterungen, trotz aller Verwüstungen, trotz
aller Ausschweifungen bald des rothen, bald des weißen Schreckens, trotz aller
Siegesglorie und trotz der furchtbarsten Niederlagen, heut noch vielfach die¬
selben Züge zeigt, wie vor hundert Jahren, wer verstehen will, wie es kommt,
daß die rastloseste Bewegung, welche die Geschichte kennt, sich stets in eng
begrenzten Kreisen vollzogen hat und immer wieder auf ihren Ausgangspunkt
zurückkehrt, der muß vor Allem die französischen Schriftsteller befragen- Wenn
aber die Geschichte der französischen Literatur ein wesentliches Hülfsmittel zur
Erkenntniß der französischen Gegenwart ist, so werfen andererseits die Ereig¬
nisse der jüngsten Gegenwart wieder ein Helles Licht auf die Vergangenheit;
was wir in den letzten Jahren gesehen und erlebt, das wird auch vielfach
auf unser Urtheil über das, was unsere Väter und Großväter erlebt, be¬
stimmend und maßgebend einwirken. Je weiter die Entwickelung fortschreitet,
um so deutlicher erkennen wir das Wesen des Kerns, von dem diese Ent¬
wickelung ihren Ausgang nimmt, und oft genug geben uns die Erschei¬
nungen der Gegenwart den Schlüsse.! für die Lösung der Räthsel der Ver¬
gangenheit.
Auch der Verfasser ist durch den letzten Krieg zu einer erneuten Prüfung
seiner Arbeit veranlaßt worden. „Das französische Volk", sagt er in der
Vorrede „hat in diesem Kriege so merkwürdige Charakterzüge gezeigt, daß
wir genöthigt sind, unsere Vorstellung von ihm einer ernsten Revision zu
unterziehen. Die Literatur zeigt die Seele des Volkes zwar nur von einer
Seite, aber von einer sehr wichtigen. Die neuesten Ereignisse klären uns
über manches auf, was uns früher unverständlich war; ich habe meine Studien
ganz von Neuem begonnen, und das Werk ist ein völlig neues geworden."
Ein zweiter Grund, der den Verfasser bestimmte, sein Werk einer voll¬
ständigen Umarbeitung zu unterziehen, entspringt der Umwandlung, welche
seine Ansicht über die Methode der literarhistorischen Darstellung erfahren
hat. Die herkömmliche Methode, nach welcher die einzelnen Schriftsteller in
gesonderter Darstellung behandelt werden, giebt, statt einer Literaturgeschichte
eine Sammlung von literarhistorischen Monographien. Es läßt sich nicht in
Abrede stellen, daß bei diesem Verfahren die großen literarischen Individua¬
litäten wohl zu ihrem Rechte kommen. Aber auch die bedeutendste Individua¬
lität ist von den allgemeinen Strömungen der Zeit bedingt, jede politische
und sociale Umwälzung übt ihren raschen und stürnnschen, jede allmäliche
Umwandlung des öffentlichen Geistes ihren langsam umbildenden Einfluß
auch auf die selbständigsten und energischsten dichterischen Individualitäten
aus. Ja, oft genug werden die Heroen der Literatur nicht minder, wie die
Grenzboten III. 1873.
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