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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Unerhörtes, als ein Versuch der Erziehung zum Atheismus aufgefaßt worden.
Viel eher hätte man den Versuch einer gewaltsamen Bekehrung zum Pro¬
testantismus verstanden. Die heutige Idee der Staatsschule, welche sich um
die Religion nicht kümmern soll, ist, aufrichtig erwogen, nichts weiter, als der
Versuch der Einführung einer aufgeklärten Religion durch die Staatsschule.
Unter diesen Gesichtspunkt werden selbst materialistische und atheistische Lehr¬
systeme fallen, sobald sie eine einheitliche Voraussetzung, einen Mittelpunkt
des handelnden Lebens, aufstellen oder annehmen. Sowie das Verhältniß von
Schule und Kirche heute oftmals gedacht ist, wird der Schule stillschweigend
die Kraft zugetraut, die Kirche zu zerstören; und umgekehrt giebt es kirchliche
Parteien, welche sich zutrauen, das Werk der Schule, wenn ihr obligatorischer
Unterricht nur die Elementarbildung umfaßt, zu zerstören oder in ihrem Sinn
zu benutzen. Wir wollen die Staatsschule im Gegensatz zur confessionellen
Schule mit diesen Aeußerungen nicht etwa verurtheilen. Wir sagen nur, daß
die Staatsschule und überhaupt keine wahre Schule ohne Religion sein kann,
auch wenn sie den Unterricht in der Religion nicht unmittelbar ertheilt. Es
giebt kein Wissen ohne Einheit des Wissens. Bruchstücke des Wissens drängen
den Geist, die Einheit aufzusuchen, der sie angehören. Eine Jugend, die man
mit unverträglichen Bruchstücken des Wissens überfüllt, ist unglücklich, wenn
die Gunst der Umstände es nicht fügt, daß ein Bruchstück im Eindruck den
Vorrang behauptet und zum Kern einer späteren Harmonie wird.

Aber nicht nur der Staatsberuf, wie er in Preußen aufgefaßt wurde
und aufgefaßt werden mußte, drängte zu einer heilsamen Ordnung der kirch¬
lichen Verhältnisse der katholischen Unterthanen. Auch politische Gründe im
engeren Sinn drängten mächtig eben dahin- Sollte man die Frankreich be¬
nachbarte Rheinprovinz dem Staat aufs höchste entfremden oder vielmehr ihr
die Möglichkeit von vornherein benehmen, sich mit dem preußischen Unter¬
thanenverhältniß auszusöhnen? Man hatte überdies den rheinischen Katho¬
liken bei der Besitzergreifung die ungehemmte Ausübung und den Schutz
ihrer Religion ausdrücklich versprochen.

So wie die Dinge lagen, konnte gar kein Zweifel obwalten über das
"Daß" einer fürsorglichen Gestaltung der katholisch kirchlichen Verhältnisse.
Die Zweifel begannen bei dem Wie. Man konnte den Versuch machen, rein
von Staatswegen eine zweckmäßige Gestaltung der Sprengel und Umgren¬
zung der oberhirtlicher Befugnisse vorzunehmen. Aber man durfte nicht hoffen
aus diesem Weg der Mitwirkung Roms völlig entrathen zu können. Sollte
sie vorher oder nachher beansprucht werden? Das war die Frage. Man
hätte auch können versuchen, die obrigkeitliche Stellung vom Staat anerkann¬
ter Oberhirten und ihre kirchliche Jurisdiktion ganz zu vermeiden und alle
Provinzen aus die Basis des westfälischen Friedens in Bezug auf die Rechte


Unerhörtes, als ein Versuch der Erziehung zum Atheismus aufgefaßt worden.
Viel eher hätte man den Versuch einer gewaltsamen Bekehrung zum Pro¬
testantismus verstanden. Die heutige Idee der Staatsschule, welche sich um
die Religion nicht kümmern soll, ist, aufrichtig erwogen, nichts weiter, als der
Versuch der Einführung einer aufgeklärten Religion durch die Staatsschule.
Unter diesen Gesichtspunkt werden selbst materialistische und atheistische Lehr¬
systeme fallen, sobald sie eine einheitliche Voraussetzung, einen Mittelpunkt
des handelnden Lebens, aufstellen oder annehmen. Sowie das Verhältniß von
Schule und Kirche heute oftmals gedacht ist, wird der Schule stillschweigend
die Kraft zugetraut, die Kirche zu zerstören; und umgekehrt giebt es kirchliche
Parteien, welche sich zutrauen, das Werk der Schule, wenn ihr obligatorischer
Unterricht nur die Elementarbildung umfaßt, zu zerstören oder in ihrem Sinn
zu benutzen. Wir wollen die Staatsschule im Gegensatz zur confessionellen
Schule mit diesen Aeußerungen nicht etwa verurtheilen. Wir sagen nur, daß
die Staatsschule und überhaupt keine wahre Schule ohne Religion sein kann,
auch wenn sie den Unterricht in der Religion nicht unmittelbar ertheilt. Es
giebt kein Wissen ohne Einheit des Wissens. Bruchstücke des Wissens drängen
den Geist, die Einheit aufzusuchen, der sie angehören. Eine Jugend, die man
mit unverträglichen Bruchstücken des Wissens überfüllt, ist unglücklich, wenn
die Gunst der Umstände es nicht fügt, daß ein Bruchstück im Eindruck den
Vorrang behauptet und zum Kern einer späteren Harmonie wird.

Aber nicht nur der Staatsberuf, wie er in Preußen aufgefaßt wurde
und aufgefaßt werden mußte, drängte zu einer heilsamen Ordnung der kirch¬
lichen Verhältnisse der katholischen Unterthanen. Auch politische Gründe im
engeren Sinn drängten mächtig eben dahin- Sollte man die Frankreich be¬
nachbarte Rheinprovinz dem Staat aufs höchste entfremden oder vielmehr ihr
die Möglichkeit von vornherein benehmen, sich mit dem preußischen Unter¬
thanenverhältniß auszusöhnen? Man hatte überdies den rheinischen Katho¬
liken bei der Besitzergreifung die ungehemmte Ausübung und den Schutz
ihrer Religion ausdrücklich versprochen.

So wie die Dinge lagen, konnte gar kein Zweifel obwalten über das
„Daß" einer fürsorglichen Gestaltung der katholisch kirchlichen Verhältnisse.
Die Zweifel begannen bei dem Wie. Man konnte den Versuch machen, rein
von Staatswegen eine zweckmäßige Gestaltung der Sprengel und Umgren¬
zung der oberhirtlicher Befugnisse vorzunehmen. Aber man durfte nicht hoffen
aus diesem Weg der Mitwirkung Roms völlig entrathen zu können. Sollte
sie vorher oder nachher beansprucht werden? Das war die Frage. Man
hätte auch können versuchen, die obrigkeitliche Stellung vom Staat anerkann¬
ter Oberhirten und ihre kirchliche Jurisdiktion ganz zu vermeiden und alle
Provinzen aus die Basis des westfälischen Friedens in Bezug auf die Rechte


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[0146] Unerhörtes, als ein Versuch der Erziehung zum Atheismus aufgefaßt worden. Viel eher hätte man den Versuch einer gewaltsamen Bekehrung zum Pro¬ testantismus verstanden. Die heutige Idee der Staatsschule, welche sich um die Religion nicht kümmern soll, ist, aufrichtig erwogen, nichts weiter, als der Versuch der Einführung einer aufgeklärten Religion durch die Staatsschule. Unter diesen Gesichtspunkt werden selbst materialistische und atheistische Lehr¬ systeme fallen, sobald sie eine einheitliche Voraussetzung, einen Mittelpunkt des handelnden Lebens, aufstellen oder annehmen. Sowie das Verhältniß von Schule und Kirche heute oftmals gedacht ist, wird der Schule stillschweigend die Kraft zugetraut, die Kirche zu zerstören; und umgekehrt giebt es kirchliche Parteien, welche sich zutrauen, das Werk der Schule, wenn ihr obligatorischer Unterricht nur die Elementarbildung umfaßt, zu zerstören oder in ihrem Sinn zu benutzen. Wir wollen die Staatsschule im Gegensatz zur confessionellen Schule mit diesen Aeußerungen nicht etwa verurtheilen. Wir sagen nur, daß die Staatsschule und überhaupt keine wahre Schule ohne Religion sein kann, auch wenn sie den Unterricht in der Religion nicht unmittelbar ertheilt. Es giebt kein Wissen ohne Einheit des Wissens. Bruchstücke des Wissens drängen den Geist, die Einheit aufzusuchen, der sie angehören. Eine Jugend, die man mit unverträglichen Bruchstücken des Wissens überfüllt, ist unglücklich, wenn die Gunst der Umstände es nicht fügt, daß ein Bruchstück im Eindruck den Vorrang behauptet und zum Kern einer späteren Harmonie wird. Aber nicht nur der Staatsberuf, wie er in Preußen aufgefaßt wurde und aufgefaßt werden mußte, drängte zu einer heilsamen Ordnung der kirch¬ lichen Verhältnisse der katholischen Unterthanen. Auch politische Gründe im engeren Sinn drängten mächtig eben dahin- Sollte man die Frankreich be¬ nachbarte Rheinprovinz dem Staat aufs höchste entfremden oder vielmehr ihr die Möglichkeit von vornherein benehmen, sich mit dem preußischen Unter¬ thanenverhältniß auszusöhnen? Man hatte überdies den rheinischen Katho¬ liken bei der Besitzergreifung die ungehemmte Ausübung und den Schutz ihrer Religion ausdrücklich versprochen. So wie die Dinge lagen, konnte gar kein Zweifel obwalten über das „Daß" einer fürsorglichen Gestaltung der katholisch kirchlichen Verhältnisse. Die Zweifel begannen bei dem Wie. Man konnte den Versuch machen, rein von Staatswegen eine zweckmäßige Gestaltung der Sprengel und Umgren¬ zung der oberhirtlicher Befugnisse vorzunehmen. Aber man durfte nicht hoffen aus diesem Weg der Mitwirkung Roms völlig entrathen zu können. Sollte sie vorher oder nachher beansprucht werden? Das war die Frage. Man hätte auch können versuchen, die obrigkeitliche Stellung vom Staat anerkann¬ ter Oberhirten und ihre kirchliche Jurisdiktion ganz zu vermeiden und alle Provinzen aus die Basis des westfälischen Friedens in Bezug auf die Rechte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/146>, abgerufen am 06.02.2025.