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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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wenn sie es versteht, die fremdartig gewordenen Bruchstücke lebendiger Vor-
gange wieder in den vollen Zusammenhang ihrer einstigen Wirklichkeit zu
setzen. Der römisch-deutsche Streit, in welchen unsere Gegenwart sich ver¬
setzt findet, hat so tief liegende Wurzeln in der deutschen Vergangenheit, daß
die öffentliche Meinung Gefahr läuft, immerfort im Urtheil irre zu gehen,
wenn sie über den wahren Inhalt des Streites nicht orientirt wird oder die
Gelegenheit, sich orientiren zu lassen, versäumt. Eine der besten Arbeiten, den
Gegenstand zum Verständniß zu bringen, verspricht die Darstellung zu wer¬
den, welche Mejer unternommen hat. So lange das Werk freilich nicht ab¬
geschlossen vorliegt, wird es vielleicht auf einen kleineren Leserkreis von Poli¬
tikern und kirchenrechtlichen Fachmännern beschränkt bleiben. Der langsame
Schritt der Darstellung und die reichlichen Einzelheiten werden das größere
Publikum nicht einladen, so lange der Ueberblick des Ganzen und mit ihm
die volle Bedeutung des Einzelnen sich noch entzieht. Umsomehr ist es aber
die Aufgabe der periodischen Presse, den belehrenden Inhalt des Buches für
ihre Leserkreise zu verwerthen.

In der zweiten Abtheilung des zweiten Bandes, mit der wir uns jetzt
nur beschäftigen wollen, schildert der Verfasser, was Preußen anlangt, eigent¬
lich nur die Vorgänge innerhalb der preußischen Negierung, ehe alle bethei¬
ligten Stellen sich über die Basis einigten für die Verhandlung mit Rom,
deren Resultat die Anordnung der katholischen Kirchenverhältnisse im preußi¬
schen Staat geworden ist, auf welcher der heutige Zustand noch im Wesent¬
lichen ruht, nachdem er durch zwei Krisen hindurchgegangen und in die dritte
jetzt eben eingetreten ist.

Als der zweite pariser Friede dem preußischen Staat, wie ihn der wiener
Congreß gebildet, wie ihn nach langen Kämpfen die preußischen Staatsmän¬
ner widerstrebend annehmen mußten, die erneute Sanction der europäischen
Staatenwelt gegeben hatte, welche letztere nur ihrerseits mit der schweren
Haft des ersten Napoleon auf eine geraume Zeit vor internationalen Käm¬
pfen gesichert erschien, da trat an diesen preußischen Staat, der so heterogen,
so geographisch zerrissen, so militärisch und handelspolitisch ungünstig gebildet
worden, die schwere Aufgabe der inneren Organisation heran. Unter den
vielen Aufgaben, in welche diese das ganze Gebiet der inneren Politik um¬
fassende Aufgabe zerfiel, drängte sich das Bedürfniß der kirchlichen Organi¬
sation hervor. Weit drängender als die Ordnung der reformirten und luthe¬
rischen Kirche im preußischen Staatsgebiet war aber die Ordnung der katho¬
lisch kirchlichen Verhältnisse. Heute, wo über ein halbes Jahrhundert seit
jenen Tagen verflossen ist, von denen wir sprechen, giebt es wohl kluge Leute,
welche fragen: "warum hat Preußen damals mit dem Papste unterhandelt,
warum den päpstlichen Stuhl zu einem Eingreifen in die Verhältnisse der


wenn sie es versteht, die fremdartig gewordenen Bruchstücke lebendiger Vor-
gange wieder in den vollen Zusammenhang ihrer einstigen Wirklichkeit zu
setzen. Der römisch-deutsche Streit, in welchen unsere Gegenwart sich ver¬
setzt findet, hat so tief liegende Wurzeln in der deutschen Vergangenheit, daß
die öffentliche Meinung Gefahr läuft, immerfort im Urtheil irre zu gehen,
wenn sie über den wahren Inhalt des Streites nicht orientirt wird oder die
Gelegenheit, sich orientiren zu lassen, versäumt. Eine der besten Arbeiten, den
Gegenstand zum Verständniß zu bringen, verspricht die Darstellung zu wer¬
den, welche Mejer unternommen hat. So lange das Werk freilich nicht ab¬
geschlossen vorliegt, wird es vielleicht auf einen kleineren Leserkreis von Poli¬
tikern und kirchenrechtlichen Fachmännern beschränkt bleiben. Der langsame
Schritt der Darstellung und die reichlichen Einzelheiten werden das größere
Publikum nicht einladen, so lange der Ueberblick des Ganzen und mit ihm
die volle Bedeutung des Einzelnen sich noch entzieht. Umsomehr ist es aber
die Aufgabe der periodischen Presse, den belehrenden Inhalt des Buches für
ihre Leserkreise zu verwerthen.

In der zweiten Abtheilung des zweiten Bandes, mit der wir uns jetzt
nur beschäftigen wollen, schildert der Verfasser, was Preußen anlangt, eigent¬
lich nur die Vorgänge innerhalb der preußischen Negierung, ehe alle bethei¬
ligten Stellen sich über die Basis einigten für die Verhandlung mit Rom,
deren Resultat die Anordnung der katholischen Kirchenverhältnisse im preußi¬
schen Staat geworden ist, auf welcher der heutige Zustand noch im Wesent¬
lichen ruht, nachdem er durch zwei Krisen hindurchgegangen und in die dritte
jetzt eben eingetreten ist.

Als der zweite pariser Friede dem preußischen Staat, wie ihn der wiener
Congreß gebildet, wie ihn nach langen Kämpfen die preußischen Staatsmän¬
ner widerstrebend annehmen mußten, die erneute Sanction der europäischen
Staatenwelt gegeben hatte, welche letztere nur ihrerseits mit der schweren
Haft des ersten Napoleon auf eine geraume Zeit vor internationalen Käm¬
pfen gesichert erschien, da trat an diesen preußischen Staat, der so heterogen,
so geographisch zerrissen, so militärisch und handelspolitisch ungünstig gebildet
worden, die schwere Aufgabe der inneren Organisation heran. Unter den
vielen Aufgaben, in welche diese das ganze Gebiet der inneren Politik um¬
fassende Aufgabe zerfiel, drängte sich das Bedürfniß der kirchlichen Organi¬
sation hervor. Weit drängender als die Ordnung der reformirten und luthe¬
rischen Kirche im preußischen Staatsgebiet war aber die Ordnung der katho¬
lisch kirchlichen Verhältnisse. Heute, wo über ein halbes Jahrhundert seit
jenen Tagen verflossen ist, von denen wir sprechen, giebt es wohl kluge Leute,
welche fragen: „warum hat Preußen damals mit dem Papste unterhandelt,
warum den päpstlichen Stuhl zu einem Eingreifen in die Verhältnisse der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/142>, abgerufen am 06.02.2025.