Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.Othello lieben." (a, a. O. Bd. 2, S, 63 f.) Und dennoch soll eine Bei alledem sind wir keineswegs gemeint, ein Vorrecht genialer Naturen Othello und Desdemona haben keine dieser Pflichten erfüllt. Die Toch¬ Die meisten Interpreten unseres Dramas leiten nun sofort aus dieser ") Ausnahmen bei Shakspeare in "Cymbeline" und "Kaufmann von Venedig" Grenzboten III. 1873. 17
Othello lieben." (a, a. O. Bd. 2, S, 63 f.) Und dennoch soll eine Bei alledem sind wir keineswegs gemeint, ein Vorrecht genialer Naturen Othello und Desdemona haben keine dieser Pflichten erfüllt. Die Toch¬ Die meisten Interpreten unseres Dramas leiten nun sofort aus dieser ») Ausnahmen bei Shakspeare in „Cymbeline" und „Kaufmann von Venedig" Grenzboten III. 1873. 17
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192940"/> <p xml:id="ID_412" prev="#ID_411"> Othello lieben." (a, a. O. Bd. 2, S, 63 f.) Und dennoch soll eine<lb/> solche Ehe, die einzig mögliche, durch das „gleichgewogene" Recht des Vaters<lb/> unmöglich werden können, d. i. hier durch die „falsche Ansicht vom Wesen<lb/> der Ehe", die derselbe Ulrici an Brabantio tadelt, — daß nämlich dieser ein¬<lb/> gefleischte Junker seine Einwilligung „nicht blos von echter Liebe und wah¬<lb/> rem Menschenwerth, sondern von allerlei Äußerlichkeiten der Geburt abhängig<lb/> macht!"</p><lb/> <p xml:id="ID_413"> Bei alledem sind wir keineswegs gemeint, ein Vorrecht genialer Naturen<lb/> zu behaupten, das sie über die Schranken einer heiligen Pflicht hinwegsührte,<lb/> die für alle übrigen Menschen unzweifelhaft verbindlich ist. Kein Vater, be¬<lb/> haupten wir, kann das Recht in Anspruch nehmen, künftige Geschlechter im<lb/> Keime zu tödten; aber auch kein Kind wird ungestraft den Vater bei der<lb/> Gattenwahl ganz ignoriren. Das wäre fast in jedem Volk") ein. so unsitt¬<lb/> licher, so unnatürlicher Verstoß gegen die einfachsten Gebote der Kindesliebe,<lb/> daß seine Folgen nach den Gesetzen dramatischer Gerechtigkeit schwer auf das<lb/> Haupt des Schuldigen niederfallen müßten. Und nicht nur „hören" soll das<lb/> Kind des Vaters Mahnung, wie Gervinus fordert, sondern ihr auch so lange<lb/> es unter der väterlichen Gewalt steht, eine höhere Ehrfurcht zollen, indem der<lb/> von den Eltern widerrathene Schritt nicht übereilt wird. Den Eltern wohnt<lb/> kein absolutes, wohl aber ein suspensives Veto bei. Durch treues Ausharren möge<lb/> die Liebe ihre Echtheit, ihre adelnde Kraft möge sie an dem gehobenen, dem<lb/> festeren, milderen Wesen der von ihr Begnadeten bewähren.</p><lb/> <p xml:id="ID_414"> Othello und Desdemona haben keine dieser Pflichten erfüllt. Die Toch¬<lb/> ter hat den Bater betrogen, in Heimlichkeit wurde sie dem Mohren ver¬<lb/> mählt. Zwar liegt auch hier neben der Schuld die Entschuldigung: dieser<lb/> Vater verachtet Othello um seiner Abstammung willen so hochmüthig, er<lb/> ist so jähzornig empört gegen seine Tochter, daß offne Bitte hier vielleicht<lb/> hoffnungslos scheinen mochte. Dennoch mußte sie versucht werden. Denn Bra-<lb/> bantio's Reden, daß er ein solches Kind in Ketten schlagen, daß er sie lieber<lb/> dem erbärmlichen Wüstling Rodrigo geben werde, brauchen wir im Munde<lb/> des hitzköpfigen Alten nicht so buchstäblich zu nehmen. Denn derselbe Bra¬<lb/> bantio hat dem Mohren nicht nur sein gastliches Haus geöffnet, er hat ihn<lb/> zum Hausfreund gehabt; und der Kummer um die Tochter, der sein Le¬<lb/> ben verzehrt, beweist für sein warmes Herz, das doch wohl zuletzt für seines<lb/> einzigen Kindes Glück gesprochen hätte. Ein so liebevoller Vater durfte von<lb/> seiner Tochter und von ihrem künftigen Gatten mehr Offenheit erwarten.</p><lb/> <p xml:id="ID_415" next="#ID_416"> Die meisten Interpreten unseres Dramas leiten nun sofort aus dieser</p><lb/> <note xml:id="FID_85" place="foot"> ») Ausnahmen bei Shakspeare in „Cymbeline" und „Kaufmann von Venedig"</note><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1873. 17</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0137]
Othello lieben." (a, a. O. Bd. 2, S, 63 f.) Und dennoch soll eine
solche Ehe, die einzig mögliche, durch das „gleichgewogene" Recht des Vaters
unmöglich werden können, d. i. hier durch die „falsche Ansicht vom Wesen
der Ehe", die derselbe Ulrici an Brabantio tadelt, — daß nämlich dieser ein¬
gefleischte Junker seine Einwilligung „nicht blos von echter Liebe und wah¬
rem Menschenwerth, sondern von allerlei Äußerlichkeiten der Geburt abhängig
macht!"
Bei alledem sind wir keineswegs gemeint, ein Vorrecht genialer Naturen
zu behaupten, das sie über die Schranken einer heiligen Pflicht hinwegsührte,
die für alle übrigen Menschen unzweifelhaft verbindlich ist. Kein Vater, be¬
haupten wir, kann das Recht in Anspruch nehmen, künftige Geschlechter im
Keime zu tödten; aber auch kein Kind wird ungestraft den Vater bei der
Gattenwahl ganz ignoriren. Das wäre fast in jedem Volk") ein. so unsitt¬
licher, so unnatürlicher Verstoß gegen die einfachsten Gebote der Kindesliebe,
daß seine Folgen nach den Gesetzen dramatischer Gerechtigkeit schwer auf das
Haupt des Schuldigen niederfallen müßten. Und nicht nur „hören" soll das
Kind des Vaters Mahnung, wie Gervinus fordert, sondern ihr auch so lange
es unter der väterlichen Gewalt steht, eine höhere Ehrfurcht zollen, indem der
von den Eltern widerrathene Schritt nicht übereilt wird. Den Eltern wohnt
kein absolutes, wohl aber ein suspensives Veto bei. Durch treues Ausharren möge
die Liebe ihre Echtheit, ihre adelnde Kraft möge sie an dem gehobenen, dem
festeren, milderen Wesen der von ihr Begnadeten bewähren.
Othello und Desdemona haben keine dieser Pflichten erfüllt. Die Toch¬
ter hat den Bater betrogen, in Heimlichkeit wurde sie dem Mohren ver¬
mählt. Zwar liegt auch hier neben der Schuld die Entschuldigung: dieser
Vater verachtet Othello um seiner Abstammung willen so hochmüthig, er
ist so jähzornig empört gegen seine Tochter, daß offne Bitte hier vielleicht
hoffnungslos scheinen mochte. Dennoch mußte sie versucht werden. Denn Bra-
bantio's Reden, daß er ein solches Kind in Ketten schlagen, daß er sie lieber
dem erbärmlichen Wüstling Rodrigo geben werde, brauchen wir im Munde
des hitzköpfigen Alten nicht so buchstäblich zu nehmen. Denn derselbe Bra¬
bantio hat dem Mohren nicht nur sein gastliches Haus geöffnet, er hat ihn
zum Hausfreund gehabt; und der Kummer um die Tochter, der sein Le¬
ben verzehrt, beweist für sein warmes Herz, das doch wohl zuletzt für seines
einzigen Kindes Glück gesprochen hätte. Ein so liebevoller Vater durfte von
seiner Tochter und von ihrem künftigen Gatten mehr Offenheit erwarten.
Die meisten Interpreten unseres Dramas leiten nun sofort aus dieser
») Ausnahmen bei Shakspeare in „Cymbeline" und „Kaufmann von Venedig"
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