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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Feldgeschrei und verzweifeltes Ringen die Welt erfüllte, hat das erwachende
Talent des werdenden Dichters den wunderbaren Liedern gelauscht, welche
die Meereswoge ihm ins Herz gesungen. So ist auch in seinen Romanen das
sinnige, Beschauliche, Schildernde vorherrschend. Rasch sich abspielende Hand¬
lung, spannende Situationen sind im Ganzen in seinen Werken zu finden,
und wo eine solche einmal in die Erzählung eingreift, wie der Aufenthalt des
Improvisators in der Räuberhöhle, da spielt sie sogleich mehr ins Wun¬
derbare und Märchenhafte. Andersen vermeidet sogar die Gelegenheit, das
Interesse des Lesers in höherm Grade aufzuregen. Welcher moderne Roman¬
dichter würde sich z, B. die heimliche Entweichung eines jungen Mädchens
aus dem Hause des Pflegevaters oder die Feuersbrunst auf dem Gehöft des
Helden-Stiefvaters, wobei der Vater das Leben verliert und die Mutter gänz¬
lichem Elend preisgegeben wird, entgehen lassen, ohne uns im ersten Falle
verschiedene athemnehmende Hindernisse, im zweiten schaurige Variationen
über Schiller's: Kinder jammern. Mütter irren, Thiere wimmern unter
Trümmern, in Nembrandtischer Beleuchtung mit vorzuführen? In "Nur
ein Geiger" von Andersen spielt sich diese Handlung gleichsam hinter der
Scene ab, und wenn die betheiligten Personen wieder die Bühne betreten,
erfahren wir erst, was unterdessen geschehn, und wie sie sich dabei benommen
haben! Auch seine Charaktere sind meist weiche Naturen, die sich treiben
lassen, wohin der Strom des Lebens sie führt, nicht aber, die ihn bezwingen
und sich an das Ufer arbeiten, das ihnen winkt. Selbst der Jmprovisator,
der nach wunderbaren Abenteuern das Ziel glücklich erreicht, auf das die ge¬
heimnißvolle Wahrsagerin schon sein Kinderauge gerichtet, wird durch das
Zusammenwirken günstiger Umstände zum Siege geführt, nicht durch seine
eigne Kraft. Und trotzdem liegt ein Duft über Andersen's Schriften, dem
niemand widersteht, der ihn einmal eingeathmet. Seine prächtigen, origi¬
nellen Schilderungen des Kinderlebens, in denen ihm vielleicht nur Reichenau
gleichkommt, die geistvollen Bilder, denen wir auf jeder Seite begegnen, neh¬
men uns eben so sehr gefangen, wie die wahren tiefgefühlten Betrachtungen,
die er oft aus unserm eignen Innersten genommen zu haben scheint. Dabei
versteht er mit der Feder zu malen, daß wir das Landschaftsbild, das Bolks-
treiben in diesem mit wirklichen Augen zu sehen meinen, den Süden sieht er
mit dem Auge des Künstlers und läßt die tiefen Farben, die weichen Linien
voll auf uns wirken, den Norden mit den Augen des Sohnes, der die Hei¬
math geliebt, noch ehe er sie bewundern gelernt hat. Daß gar Viele an der
Eigenart des Dichters sich erfreut haben und noch erfreuen, beweisen die häufig
wiederholten Auflagen seiner Werke, aber doch ist Andersen, vielleicht nur
seine Märchen und das Bilderbuch ohne Bilder ausgenommen, nicht so Ei-
genthum des ganzen deutschen Leserkreises geworden, wie er es verdient.


Feldgeschrei und verzweifeltes Ringen die Welt erfüllte, hat das erwachende
Talent des werdenden Dichters den wunderbaren Liedern gelauscht, welche
die Meereswoge ihm ins Herz gesungen. So ist auch in seinen Romanen das
sinnige, Beschauliche, Schildernde vorherrschend. Rasch sich abspielende Hand¬
lung, spannende Situationen sind im Ganzen in seinen Werken zu finden,
und wo eine solche einmal in die Erzählung eingreift, wie der Aufenthalt des
Improvisators in der Räuberhöhle, da spielt sie sogleich mehr ins Wun¬
derbare und Märchenhafte. Andersen vermeidet sogar die Gelegenheit, das
Interesse des Lesers in höherm Grade aufzuregen. Welcher moderne Roman¬
dichter würde sich z, B. die heimliche Entweichung eines jungen Mädchens
aus dem Hause des Pflegevaters oder die Feuersbrunst auf dem Gehöft des
Helden-Stiefvaters, wobei der Vater das Leben verliert und die Mutter gänz¬
lichem Elend preisgegeben wird, entgehen lassen, ohne uns im ersten Falle
verschiedene athemnehmende Hindernisse, im zweiten schaurige Variationen
über Schiller's: Kinder jammern. Mütter irren, Thiere wimmern unter
Trümmern, in Nembrandtischer Beleuchtung mit vorzuführen? In „Nur
ein Geiger" von Andersen spielt sich diese Handlung gleichsam hinter der
Scene ab, und wenn die betheiligten Personen wieder die Bühne betreten,
erfahren wir erst, was unterdessen geschehn, und wie sie sich dabei benommen
haben! Auch seine Charaktere sind meist weiche Naturen, die sich treiben
lassen, wohin der Strom des Lebens sie führt, nicht aber, die ihn bezwingen
und sich an das Ufer arbeiten, das ihnen winkt. Selbst der Jmprovisator,
der nach wunderbaren Abenteuern das Ziel glücklich erreicht, auf das die ge¬
heimnißvolle Wahrsagerin schon sein Kinderauge gerichtet, wird durch das
Zusammenwirken günstiger Umstände zum Siege geführt, nicht durch seine
eigne Kraft. Und trotzdem liegt ein Duft über Andersen's Schriften, dem
niemand widersteht, der ihn einmal eingeathmet. Seine prächtigen, origi¬
nellen Schilderungen des Kinderlebens, in denen ihm vielleicht nur Reichenau
gleichkommt, die geistvollen Bilder, denen wir auf jeder Seite begegnen, neh¬
men uns eben so sehr gefangen, wie die wahren tiefgefühlten Betrachtungen,
die er oft aus unserm eignen Innersten genommen zu haben scheint. Dabei
versteht er mit der Feder zu malen, daß wir das Landschaftsbild, das Bolks-
treiben in diesem mit wirklichen Augen zu sehen meinen, den Süden sieht er
mit dem Auge des Künstlers und läßt die tiefen Farben, die weichen Linien
voll auf uns wirken, den Norden mit den Augen des Sohnes, der die Hei¬
math geliebt, noch ehe er sie bewundern gelernt hat. Daß gar Viele an der
Eigenart des Dichters sich erfreut haben und noch erfreuen, beweisen die häufig
wiederholten Auflagen seiner Werke, aber doch ist Andersen, vielleicht nur
seine Märchen und das Bilderbuch ohne Bilder ausgenommen, nicht so Ei-
genthum des ganzen deutschen Leserkreises geworden, wie er es verdient.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/127>, abgerufen am 06.02.2025.