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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Harmonie sich wiegten und beugten, sich drehten, sich hoben, sich senkten, sich
krümmten, sich streckten, wirbelten, zuckten und sich wanden, als ob sie Theil
und Zubehör eines einzigen Individuums wären, und es schwer war, sich des
Glaubens zu enthalten, sie würden sammt und sonders von einem vortrefflichen
Mechanismus bewegt.

In den letzten Jahren jedoch hat der Sonnabend die meisten seiner ehe¬
maligen prächtigen Züge verloren. Diese allwöchentliche Hetzjagd der Einge-
bornen störte die Arbeit und die Interessen der Weißen zu sehr, und indem
man hier ein Gesetz vorsteckte, dort eine Predigt dagegen losließ, sowie durch
andere Mittel, beseitigte man sie zuletzt bis auf schwache Neste. Die demo-
ralisirende Hulahula wurde verboten, wenigstens für die Tageszeit und die
Öffentlichkeit. Sie durfte nur noch des Nachts und bei verschlossenen Thüren
in Gegenwart weniger Zuschauer getanzt werden und nur nach gebührender
Erlegung von zehn Dollars an die Negierung, deren Erlaubniß eingeholt
werden mußte. Nur wenige Mädchen sollen heutzutage noch im Stande sein,
diesen alten Nationaltanz mit höchster künstlerischer Vollendung zu tanzen.

Die Missionäre haben alle Eingebornen zu Christen gemacht und erzogen.
Sie gehören insgesammt der Kirche an, und nicht einer ist unter ihnen, der
über acht Jahre alt wäre und nicht mit Geläufigkeit in seiner Muttersprache
lesen und schreiben könnte. Es ist die am besten unterrichtete Volksrace außer¬
halb Chinas. Sie haben alle möglichen Bücher, die in der Kanakasprache
gedruckt sind, und alle Eingebornen studiren gern darin. Sie sind ferner
eingefleischte Kirchgänger -- nichts kann sie davon abhalten. Aus dieser
bessernden Cultivirung hat sich zuletzt in den eingebornen Frauen ein tiefer
Respect vor der Keuschheit entwickelt -- d. h. vor der Keuschheit bei andern
Leuten. Das ist vielleicht genug gesagt über dieses Kapitel. Die National¬
sünde wird aussterben, wenn die Race ausstirbt, aber vermuthlich nicht eher.
Aber ohne Zweifel wird diese Reinigung nicht lange mehr auf sich warten
lassen, wenn wir bedenken, daß der Contact mit der Civilisation und den
Weißen die nationale Bevölkerung von vicrhunderttausend Seelen (Kapitän
Cooks Schätzung) binnen etwas mehr als achtzig Jahren auf fünfundfünfzig-
tausend herabgebracht hat.

Die Gesellschaft ist in diesem wichtigen Mittelpunkt der Regierung, der
Missionäre und der Walfischfahrer eine wunderliche Mischung. Kommt man
mit einem Fremden ins Gespräch und empfindet man das natürliche Ver¬
langen, zu wissen, auf welcher Art Boden man sich befindet, und zu erfahren,
was für eine Sorte Mensch dieser unser Fremder ist, dreist heraus dann und
ihn mit "Kapitän" angeredet. Man beobachte ihn dann näher, und sieht
man an seinem Gesicht, daß man auf falscher Fährte ist, so frage man ihn,
wo er predigt. Mit Sicherheit kann man wetten, daß er entweder ein Mis-


Harmonie sich wiegten und beugten, sich drehten, sich hoben, sich senkten, sich
krümmten, sich streckten, wirbelten, zuckten und sich wanden, als ob sie Theil
und Zubehör eines einzigen Individuums wären, und es schwer war, sich des
Glaubens zu enthalten, sie würden sammt und sonders von einem vortrefflichen
Mechanismus bewegt.

In den letzten Jahren jedoch hat der Sonnabend die meisten seiner ehe¬
maligen prächtigen Züge verloren. Diese allwöchentliche Hetzjagd der Einge-
bornen störte die Arbeit und die Interessen der Weißen zu sehr, und indem
man hier ein Gesetz vorsteckte, dort eine Predigt dagegen losließ, sowie durch
andere Mittel, beseitigte man sie zuletzt bis auf schwache Neste. Die demo-
ralisirende Hulahula wurde verboten, wenigstens für die Tageszeit und die
Öffentlichkeit. Sie durfte nur noch des Nachts und bei verschlossenen Thüren
in Gegenwart weniger Zuschauer getanzt werden und nur nach gebührender
Erlegung von zehn Dollars an die Negierung, deren Erlaubniß eingeholt
werden mußte. Nur wenige Mädchen sollen heutzutage noch im Stande sein,
diesen alten Nationaltanz mit höchster künstlerischer Vollendung zu tanzen.

Die Missionäre haben alle Eingebornen zu Christen gemacht und erzogen.
Sie gehören insgesammt der Kirche an, und nicht einer ist unter ihnen, der
über acht Jahre alt wäre und nicht mit Geläufigkeit in seiner Muttersprache
lesen und schreiben könnte. Es ist die am besten unterrichtete Volksrace außer¬
halb Chinas. Sie haben alle möglichen Bücher, die in der Kanakasprache
gedruckt sind, und alle Eingebornen studiren gern darin. Sie sind ferner
eingefleischte Kirchgänger — nichts kann sie davon abhalten. Aus dieser
bessernden Cultivirung hat sich zuletzt in den eingebornen Frauen ein tiefer
Respect vor der Keuschheit entwickelt — d. h. vor der Keuschheit bei andern
Leuten. Das ist vielleicht genug gesagt über dieses Kapitel. Die National¬
sünde wird aussterben, wenn die Race ausstirbt, aber vermuthlich nicht eher.
Aber ohne Zweifel wird diese Reinigung nicht lange mehr auf sich warten
lassen, wenn wir bedenken, daß der Contact mit der Civilisation und den
Weißen die nationale Bevölkerung von vicrhunderttausend Seelen (Kapitän
Cooks Schätzung) binnen etwas mehr als achtzig Jahren auf fünfundfünfzig-
tausend herabgebracht hat.

Die Gesellschaft ist in diesem wichtigen Mittelpunkt der Regierung, der
Missionäre und der Walfischfahrer eine wunderliche Mischung. Kommt man
mit einem Fremden ins Gespräch und empfindet man das natürliche Ver¬
langen, zu wissen, auf welcher Art Boden man sich befindet, und zu erfahren,
was für eine Sorte Mensch dieser unser Fremder ist, dreist heraus dann und
ihn mit „Kapitän" angeredet. Man beobachte ihn dann näher, und sieht
man an seinem Gesicht, daß man auf falscher Fährte ist, so frage man ihn,
wo er predigt. Mit Sicherheit kann man wetten, daß er entweder ein Mis-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/111>, abgerufen am 06.02.2025.