Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Vortheil, daß es die Vertheidigung eines Angeklagten, wie im Civilverfahren des
Besitzes -- und eigentlich ist Straf- und Civilproceß im ältern germanischen Rechte
nicht zu unterscheiden -- außerordentlich leicht machte, die richterliche Gewalt
äußerst beschränkte. So konnte, wer im factischen Besitze sich befand und
eine bestimmt qualisicirte Rechtsbehauptung für diesen Besitz aufzustellen ver¬
mochte, diesen Besitz mit seinem Eide oder auch mit seinem Eide und dem
Eide einer Anzahl von Genossen gegen Jedermann behaupten und so ver¬
theidigte der Angeklagte regelmäßig seine Unschuld sogar mit seinem alleinigen
Eide. Freilich konnte unter Umständen die Präsumtion, aus welche, um noch/
mals einen uns geläufigen Ausdruck zu gebrauchen, die Zuertheilung des Beweis¬
rechtes hinauskam, auch hart und grausam sein. Der Angeklagte, der z, B-
richt mehr unbescholten war, hatte etwa der Anklage gegenüber nur die Be¬
rufung auf das Gottesurtheil; er galt beinah schon für verurtheilt, und es
konnte ausnahmsweise der Ankläger sofort mit Eidhelfern die Anklage be¬
schwören und dadurch eine Verurtheilung des Angeklagten herbeiführen, wenn
der Fall der f. g. handhafter That vorlag, d. h. wenn der Thäter un-
mittelbar nach der That mit Geschrei verfolgt und mit den später f. g. Leib¬
zeichen vor Gericht geschleppt wurde.

Abgesehen nun davon, daß ein derartiges Beweisrecht nur für einfache,
wenig entwickelte Culturverhältnisse paßte und mit dem Glauben an die
Gottesurtheile und die Zweikämpfe seinen Schlußstein später verlieren mußte,
war mit demselben, da es wesentlich auch beruhte auf einer sehr wirksamen
Controle der Volksgenossen selbst, praktisch da nicht auszukommen, wo diese
sämmtlich gleichsam als geschlossene Partei auftraten oder doch bestimmten
Gegnern gegenüber die Sache der Partei ohne Weiteres als mit in ihrem
Interesse liegend betrachteten. In solchem Falle vermochte Jeder, der in un¬
rechtmäßigen Besitze sich befand oder den Besitz durch Gewalt erlangen konnte,
durch einen Meineid, dessen Folgen er nun nicht leicht zu befürchten brauchte,
und für den ihm Eidhelfer leicht zu Gebote standen, jenen Besitz gegen den recht¬
mäßigen Eigenthümer zu behaupten. So ist es denn sehr begreiflich, daß
das germanische Beweisrecht einerseits dem Fiscus der fränkischen Könige und
andererseits den Rechten der Kirchen und Klöster besonders nachtheilig werden
mußte. Diesen Gegnern gegenüber bildeten die Volksgenossen, insbesondere
die größeren Grundbesitzer eine Phalanx: die ausgedehnten Fiscalgüter, der
sich mehrende geistliche Besitz erschienen ihnen als ein geeignetes allgemeines
Aneignunzsobject. Die fränkischen Könige suchten daher ihre Besitzungen
dadurch zu schützen, daß sie für dieselben, unter Benutzung wohl der Be¬
stimmungen des späteren römischen Rechtes, welche den Fiscalsachen eine
besondere proeessualische Behandlung sicherten, ein eigenes Beweisrecht (ImM-
Mio) einführten, welches die materielle Wahrheit gegenüber dem bösen Willen


Vortheil, daß es die Vertheidigung eines Angeklagten, wie im Civilverfahren des
Besitzes — und eigentlich ist Straf- und Civilproceß im ältern germanischen Rechte
nicht zu unterscheiden — außerordentlich leicht machte, die richterliche Gewalt
äußerst beschränkte. So konnte, wer im factischen Besitze sich befand und
eine bestimmt qualisicirte Rechtsbehauptung für diesen Besitz aufzustellen ver¬
mochte, diesen Besitz mit seinem Eide oder auch mit seinem Eide und dem
Eide einer Anzahl von Genossen gegen Jedermann behaupten und so ver¬
theidigte der Angeklagte regelmäßig seine Unschuld sogar mit seinem alleinigen
Eide. Freilich konnte unter Umständen die Präsumtion, aus welche, um noch/
mals einen uns geläufigen Ausdruck zu gebrauchen, die Zuertheilung des Beweis¬
rechtes hinauskam, auch hart und grausam sein. Der Angeklagte, der z, B-
richt mehr unbescholten war, hatte etwa der Anklage gegenüber nur die Be¬
rufung auf das Gottesurtheil; er galt beinah schon für verurtheilt, und es
konnte ausnahmsweise der Ankläger sofort mit Eidhelfern die Anklage be¬
schwören und dadurch eine Verurtheilung des Angeklagten herbeiführen, wenn
der Fall der f. g. handhafter That vorlag, d. h. wenn der Thäter un-
mittelbar nach der That mit Geschrei verfolgt und mit den später f. g. Leib¬
zeichen vor Gericht geschleppt wurde.

Abgesehen nun davon, daß ein derartiges Beweisrecht nur für einfache,
wenig entwickelte Culturverhältnisse paßte und mit dem Glauben an die
Gottesurtheile und die Zweikämpfe seinen Schlußstein später verlieren mußte,
war mit demselben, da es wesentlich auch beruhte auf einer sehr wirksamen
Controle der Volksgenossen selbst, praktisch da nicht auszukommen, wo diese
sämmtlich gleichsam als geschlossene Partei auftraten oder doch bestimmten
Gegnern gegenüber die Sache der Partei ohne Weiteres als mit in ihrem
Interesse liegend betrachteten. In solchem Falle vermochte Jeder, der in un¬
rechtmäßigen Besitze sich befand oder den Besitz durch Gewalt erlangen konnte,
durch einen Meineid, dessen Folgen er nun nicht leicht zu befürchten brauchte,
und für den ihm Eidhelfer leicht zu Gebote standen, jenen Besitz gegen den recht¬
mäßigen Eigenthümer zu behaupten. So ist es denn sehr begreiflich, daß
das germanische Beweisrecht einerseits dem Fiscus der fränkischen Könige und
andererseits den Rechten der Kirchen und Klöster besonders nachtheilig werden
mußte. Diesen Gegnern gegenüber bildeten die Volksgenossen, insbesondere
die größeren Grundbesitzer eine Phalanx: die ausgedehnten Fiscalgüter, der
sich mehrende geistliche Besitz erschienen ihnen als ein geeignetes allgemeines
Aneignunzsobject. Die fränkischen Könige suchten daher ihre Besitzungen
dadurch zu schützen, daß sie für dieselben, unter Benutzung wohl der Be¬
stimmungen des späteren römischen Rechtes, welche den Fiscalsachen eine
besondere proeessualische Behandlung sicherten, ein eigenes Beweisrecht (ImM-
Mio) einführten, welches die materielle Wahrheit gegenüber dem bösen Willen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0101" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192904"/>
            <p xml:id="ID_280" prev="#ID_279"> Vortheil, daß es die Vertheidigung eines Angeklagten, wie im Civilverfahren des<lb/>
Besitzes &#x2014; und eigentlich ist Straf- und Civilproceß im ältern germanischen Rechte<lb/>
nicht zu unterscheiden &#x2014; außerordentlich leicht machte, die richterliche Gewalt<lb/>
äußerst beschränkte. So konnte, wer im factischen Besitze sich befand und<lb/>
eine bestimmt qualisicirte Rechtsbehauptung für diesen Besitz aufzustellen ver¬<lb/>
mochte, diesen Besitz mit seinem Eide oder auch mit seinem Eide und dem<lb/>
Eide einer Anzahl von Genossen gegen Jedermann behaupten und so ver¬<lb/>
theidigte der Angeklagte regelmäßig seine Unschuld sogar mit seinem alleinigen<lb/>
Eide. Freilich konnte unter Umständen die Präsumtion, aus welche, um noch/<lb/>
mals einen uns geläufigen Ausdruck zu gebrauchen, die Zuertheilung des Beweis¬<lb/>
rechtes hinauskam, auch hart und grausam sein. Der Angeklagte, der z, B-<lb/>
richt mehr unbescholten war, hatte etwa der Anklage gegenüber nur die Be¬<lb/>
rufung auf das Gottesurtheil; er galt beinah schon für verurtheilt, und es<lb/>
konnte ausnahmsweise der Ankläger sofort mit Eidhelfern die Anklage be¬<lb/>
schwören und dadurch eine Verurtheilung des Angeklagten herbeiführen, wenn<lb/>
der Fall der f. g. handhafter That vorlag, d. h. wenn der Thäter un-<lb/>
mittelbar nach der That mit Geschrei verfolgt und mit den später f. g. Leib¬<lb/>
zeichen vor Gericht geschleppt wurde.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_281" next="#ID_282"> Abgesehen nun davon, daß ein derartiges Beweisrecht nur für einfache,<lb/>
wenig entwickelte Culturverhältnisse paßte und mit dem Glauben an die<lb/>
Gottesurtheile und die Zweikämpfe seinen Schlußstein später verlieren mußte,<lb/>
war mit demselben, da es wesentlich auch beruhte auf einer sehr wirksamen<lb/>
Controle der Volksgenossen selbst, praktisch da nicht auszukommen, wo diese<lb/>
sämmtlich gleichsam als geschlossene Partei auftraten oder doch bestimmten<lb/>
Gegnern gegenüber die Sache der Partei ohne Weiteres als mit in ihrem<lb/>
Interesse liegend betrachteten. In solchem Falle vermochte Jeder, der in un¬<lb/>
rechtmäßigen Besitze sich befand oder den Besitz durch Gewalt erlangen konnte,<lb/>
durch einen Meineid, dessen Folgen er nun nicht leicht zu befürchten brauchte,<lb/>
und für den ihm Eidhelfer leicht zu Gebote standen, jenen Besitz gegen den recht¬<lb/>
mäßigen Eigenthümer zu behaupten. So ist es denn sehr begreiflich, daß<lb/>
das germanische Beweisrecht einerseits dem Fiscus der fränkischen Könige und<lb/>
andererseits den Rechten der Kirchen und Klöster besonders nachtheilig werden<lb/>
mußte. Diesen Gegnern gegenüber bildeten die Volksgenossen, insbesondere<lb/>
die größeren Grundbesitzer eine Phalanx: die ausgedehnten Fiscalgüter, der<lb/>
sich mehrende geistliche Besitz erschienen ihnen als ein geeignetes allgemeines<lb/>
Aneignunzsobject. Die fränkischen Könige suchten daher ihre Besitzungen<lb/>
dadurch zu schützen, daß sie für dieselben, unter Benutzung wohl der Be¬<lb/>
stimmungen des späteren römischen Rechtes, welche den Fiscalsachen eine<lb/>
besondere proeessualische Behandlung sicherten, ein eigenes Beweisrecht (ImM-<lb/>
Mio) einführten, welches die materielle Wahrheit gegenüber dem bösen Willen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0101] Vortheil, daß es die Vertheidigung eines Angeklagten, wie im Civilverfahren des Besitzes — und eigentlich ist Straf- und Civilproceß im ältern germanischen Rechte nicht zu unterscheiden — außerordentlich leicht machte, die richterliche Gewalt äußerst beschränkte. So konnte, wer im factischen Besitze sich befand und eine bestimmt qualisicirte Rechtsbehauptung für diesen Besitz aufzustellen ver¬ mochte, diesen Besitz mit seinem Eide oder auch mit seinem Eide und dem Eide einer Anzahl von Genossen gegen Jedermann behaupten und so ver¬ theidigte der Angeklagte regelmäßig seine Unschuld sogar mit seinem alleinigen Eide. Freilich konnte unter Umständen die Präsumtion, aus welche, um noch/ mals einen uns geläufigen Ausdruck zu gebrauchen, die Zuertheilung des Beweis¬ rechtes hinauskam, auch hart und grausam sein. Der Angeklagte, der z, B- richt mehr unbescholten war, hatte etwa der Anklage gegenüber nur die Be¬ rufung auf das Gottesurtheil; er galt beinah schon für verurtheilt, und es konnte ausnahmsweise der Ankläger sofort mit Eidhelfern die Anklage be¬ schwören und dadurch eine Verurtheilung des Angeklagten herbeiführen, wenn der Fall der f. g. handhafter That vorlag, d. h. wenn der Thäter un- mittelbar nach der That mit Geschrei verfolgt und mit den später f. g. Leib¬ zeichen vor Gericht geschleppt wurde. Abgesehen nun davon, daß ein derartiges Beweisrecht nur für einfache, wenig entwickelte Culturverhältnisse paßte und mit dem Glauben an die Gottesurtheile und die Zweikämpfe seinen Schlußstein später verlieren mußte, war mit demselben, da es wesentlich auch beruhte auf einer sehr wirksamen Controle der Volksgenossen selbst, praktisch da nicht auszukommen, wo diese sämmtlich gleichsam als geschlossene Partei auftraten oder doch bestimmten Gegnern gegenüber die Sache der Partei ohne Weiteres als mit in ihrem Interesse liegend betrachteten. In solchem Falle vermochte Jeder, der in un¬ rechtmäßigen Besitze sich befand oder den Besitz durch Gewalt erlangen konnte, durch einen Meineid, dessen Folgen er nun nicht leicht zu befürchten brauchte, und für den ihm Eidhelfer leicht zu Gebote standen, jenen Besitz gegen den recht¬ mäßigen Eigenthümer zu behaupten. So ist es denn sehr begreiflich, daß das germanische Beweisrecht einerseits dem Fiscus der fränkischen Könige und andererseits den Rechten der Kirchen und Klöster besonders nachtheilig werden mußte. Diesen Gegnern gegenüber bildeten die Volksgenossen, insbesondere die größeren Grundbesitzer eine Phalanx: die ausgedehnten Fiscalgüter, der sich mehrende geistliche Besitz erschienen ihnen als ein geeignetes allgemeines Aneignunzsobject. Die fränkischen Könige suchten daher ihre Besitzungen dadurch zu schützen, daß sie für dieselben, unter Benutzung wohl der Be¬ stimmungen des späteren römischen Rechtes, welche den Fiscalsachen eine besondere proeessualische Behandlung sicherten, ein eigenes Beweisrecht (ImM- Mio) einführten, welches die materielle Wahrheit gegenüber dem bösen Willen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/101
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/101>, abgerufen am 06.02.2025.