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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band.

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noch immer an den Idealen festhielt, welchen die Andern längst den Rücken
gekehrt hatten." Ein wohlmeinender Arzt würde dem Patienten vielleicht
eine Luftveränderung verschrieben haben und die Sächsische Negierung über¬
nahm ihrerseits sehr bald die Rolle dieses wohlmeinenden Arztes. Der Som¬
mer war Biedermann, mit der kurzen Unterbrechung, welche die bekannte
Zusammenkunft in Gotha brachte, in stiller ländlicher Zurückgezogenheit ver¬
flossen. Der Herbst brachte die neuen Landtagswahlen in Sachsen. Für den
Mann, dem ein halb Dutzend Sitze im Frankfurter Parlament angeboten
worden, ward nun. im Sächsischen Landtag nur durch den aufopfernden Rück¬
tritt eines Frankfurter Parteigenossen, des wackeren or> Hallbauer in Meißen,
ein einziger frei gemacht. Und gerade diesem, so zu sagen durch eine Hinter¬
thüre hereingeschlüpften Abgeordneten, dankt der Landtag von 1849/50 die
echte nationale Farbe, die ihn der charakterlosen und bundesfeindlichen Po¬
litik Beust's gegenüber in hohem Grade auszeichnet. Nicht minder hat die
schamlose Verlogenheit der damaligen offiziösen Presse, welche u. A. so weit ging,
die Volksvertretung wegen Verzögerung derselben Gesetze beim Volke anzuschwär¬
zen, welche bei der Regierung fort und fort vergeblich erbeten wurden, in
Biedermann's Schrift "die Wiedereinberufung der alten Stände in Sachsen
aus dem Gesichtspunkte des Rechts und der Politik; zugleich eine Rechtfer¬
tigung der Kammern v. 1849/50" die gründlichste Züchtigung erfahren,
ebenso aber auch der Beust'sche Staatsstreich, "die Reactivirung" der seligen
Stände selbst.

Gerade jetzt, wo man "Ruhe um jeden Preis" wollte, war dieser Mann in
hohem Grade unbequem und mußte beseitigt werden. Den willkommenen Anlaß
bot ein Aufsatz in dem ersten Hefte der nun, nach Biedermann's Rückkehr vom
Landtag und gänzlicher Zurückziehung von politischer Arbeit von ihm herausge¬
gebenen "Deutschen Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung
an die Vergangenheit". Dieser Aufsatz war gegen das neue Napoleonische
Kaiserthum und seine Bewunderer in den Deutschen Kabinetten gerichtet.
Biedermann war nicht einmal Verfasser, sondern von Nochau; der Letztere
blieb jedoch ungenannt. Der Aufsatz war vierzehn Tage in der Hand des
zur Prüfung etwaiger Preßdeliete pflichtmäßig bestellten Criminalrichters ge¬
wesen und unbeanstandet geblieben, als eine -- schlechthin ungesetzliche --
Verordnung des Ministers des Innern (v. Beust) eine Menge strafbarer
Stellen auftrieb und die Untersuchung verlangte, was natürlich auch sofort
geschah. Diese von der ersten Instanz mit rührender Treue der ministeriellen
Verordnung angepaßten Anklagepunkte wurden von der zweiten zum großen
Theil als unhaltbar erkannt, dagegen von dieser wieder ganz andere Ausdrücke
strafbar befunden. Die dritte Instanz endlich formulirte das Anklagematerial


noch immer an den Idealen festhielt, welchen die Andern längst den Rücken
gekehrt hatten." Ein wohlmeinender Arzt würde dem Patienten vielleicht
eine Luftveränderung verschrieben haben und die Sächsische Negierung über¬
nahm ihrerseits sehr bald die Rolle dieses wohlmeinenden Arztes. Der Som¬
mer war Biedermann, mit der kurzen Unterbrechung, welche die bekannte
Zusammenkunft in Gotha brachte, in stiller ländlicher Zurückgezogenheit ver¬
flossen. Der Herbst brachte die neuen Landtagswahlen in Sachsen. Für den
Mann, dem ein halb Dutzend Sitze im Frankfurter Parlament angeboten
worden, ward nun. im Sächsischen Landtag nur durch den aufopfernden Rück¬
tritt eines Frankfurter Parteigenossen, des wackeren or> Hallbauer in Meißen,
ein einziger frei gemacht. Und gerade diesem, so zu sagen durch eine Hinter¬
thüre hereingeschlüpften Abgeordneten, dankt der Landtag von 1849/50 die
echte nationale Farbe, die ihn der charakterlosen und bundesfeindlichen Po¬
litik Beust's gegenüber in hohem Grade auszeichnet. Nicht minder hat die
schamlose Verlogenheit der damaligen offiziösen Presse, welche u. A. so weit ging,
die Volksvertretung wegen Verzögerung derselben Gesetze beim Volke anzuschwär¬
zen, welche bei der Regierung fort und fort vergeblich erbeten wurden, in
Biedermann's Schrift „die Wiedereinberufung der alten Stände in Sachsen
aus dem Gesichtspunkte des Rechts und der Politik; zugleich eine Rechtfer¬
tigung der Kammern v. 1849/50" die gründlichste Züchtigung erfahren,
ebenso aber auch der Beust'sche Staatsstreich, „die Reactivirung" der seligen
Stände selbst.

Gerade jetzt, wo man „Ruhe um jeden Preis" wollte, war dieser Mann in
hohem Grade unbequem und mußte beseitigt werden. Den willkommenen Anlaß
bot ein Aufsatz in dem ersten Hefte der nun, nach Biedermann's Rückkehr vom
Landtag und gänzlicher Zurückziehung von politischer Arbeit von ihm herausge¬
gebenen „Deutschen Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung
an die Vergangenheit". Dieser Aufsatz war gegen das neue Napoleonische
Kaiserthum und seine Bewunderer in den Deutschen Kabinetten gerichtet.
Biedermann war nicht einmal Verfasser, sondern von Nochau; der Letztere
blieb jedoch ungenannt. Der Aufsatz war vierzehn Tage in der Hand des
zur Prüfung etwaiger Preßdeliete pflichtmäßig bestellten Criminalrichters ge¬
wesen und unbeanstandet geblieben, als eine — schlechthin ungesetzliche —
Verordnung des Ministers des Innern (v. Beust) eine Menge strafbarer
Stellen auftrieb und die Untersuchung verlangte, was natürlich auch sofort
geschah. Diese von der ersten Instanz mit rührender Treue der ministeriellen
Verordnung angepaßten Anklagepunkte wurden von der zweiten zum großen
Theil als unhaltbar erkannt, dagegen von dieser wieder ganz andere Ausdrücke
strafbar befunden. Die dritte Instanz endlich formulirte das Anklagematerial


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_129525/380>, abgerufen am 12.01.2025.