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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band.

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Stellung zu den politischen und socialen Verhältnissen der Gegenwart". Es
bedarf nur der Anführung dieses Titels, um festzustellen, daß der Lehrer der
Philosophie in seinem einsamen Studirstübchen in den wenigen Jahren seit
dem Abschied von Heidelberg dem großen öffentlichen Leben immer regeres
Interesse zugewandt hatte. Schon in der "Fundamental-Philosophie" war
als Schlußresultat die Forderung einer Wendung nach dem praktischen Leben
und seinen sittlichen und bürgerlichen Strebungen aufgestellt worden. Die¬
selbe Auffassung/ war 1839 in der vielbesprochenen Schrift "Wissenschaft und
Universität in ihrer Stellung zu den praktischen Interessen der Gegenwart"
hervorgetreten. Nun vollends ausgeprägt verlangte die "Geschichte der deut¬
schen Philosophie" die Nutzbarmachung philosophischer Erkenntniß für das
praktische Leben und die verschiedensten Wissenschaften. Der gewaltige Um¬
schwung in allen Zweigen des öffentlichen und materiellen Lebens in Sachsen,
der sich während Biedermann's erstem akademischen Wirken vollzog, hatte an
dieser praktisch-realen Richtung seiner Forschung hauptsächlichen Antheil. Im
Jahre 1834 war Sachsen dem Zollverein beigetreten, in demselben Jahre
war durch die Linie Leipzig-Dresden das erste größere deutsche Eisenbahnunter¬
nehmer ins Leben getreten. Bald darauf regten sich auf dem zweiten Sächsi¬
schen Landtag die ersten Anfänge einer entschiedenen liberalen Opposition. Dann
wurde Deutschland ergriffen durch das Geschick der tapferen "Göttinger Sieben",
von denen Weber und Albrecht nach Leipzig kamen.

Biedermann's akademisches Wirken war -- und ist heute noch -- ein
treues Abbild seines literarischen Schaffens. Schon damals zog er die streb¬
sameren seiner Zuhörer zu näherem dialogischen Gedankenaustausch an sich.
In freier Vereinigung wurden die wichtigsten Fragen der Wissenschaft wie
des Lebens gründlich durchgesprochen; Seiten des Lehrers ohne jede Präten¬
sion von Schulweisheit; für den Charakter, die Wahrhaftigkeit und den Le¬
bensernst der Lernenden sehr fruchtbringend. Leute sehr verschiedener Richtung
sind aus diesem freien Kreise hervorgegangen, aber nicht ein Heuchler, nicht
ein Verächter des Höheren, nicht ein flacher Weltmensch. -- Indessen ein
so inniges Verhältniß zwischen Lehrer und Hörern galt damals im Staate
Sachsen schon als ein bischen staatsgefährlich, zumal in der philosophischen
Facultät, in der noch heute alle möglichen Disciplinen untergebracht werden,
"die man nicht decimiren kann". Gerade die philosophische Facultät Leipzigs
erfreut sich seit etwa einem Menschenalter in Dresden einer so eigenthümlichen
Gunst und Behandlung, daß in dieser Zeit der Leipziger Hochschule Namen
wie Mommsen, Jahr, Hartenstein. Treitschke u. s. w. ohne jeden ernstlichen
Versuch der Erhaltung, und lange genug auch ohne jeden Versuch des Er¬
satzes, verloren gegangen sind. Von dieser gemischten Stimmung sollte auch
Biedermann reichliche Beweise erhalten. Solange er von der Freiheit deutscher


Stellung zu den politischen und socialen Verhältnissen der Gegenwart". Es
bedarf nur der Anführung dieses Titels, um festzustellen, daß der Lehrer der
Philosophie in seinem einsamen Studirstübchen in den wenigen Jahren seit
dem Abschied von Heidelberg dem großen öffentlichen Leben immer regeres
Interesse zugewandt hatte. Schon in der „Fundamental-Philosophie" war
als Schlußresultat die Forderung einer Wendung nach dem praktischen Leben
und seinen sittlichen und bürgerlichen Strebungen aufgestellt worden. Die¬
selbe Auffassung/ war 1839 in der vielbesprochenen Schrift „Wissenschaft und
Universität in ihrer Stellung zu den praktischen Interessen der Gegenwart"
hervorgetreten. Nun vollends ausgeprägt verlangte die „Geschichte der deut¬
schen Philosophie" die Nutzbarmachung philosophischer Erkenntniß für das
praktische Leben und die verschiedensten Wissenschaften. Der gewaltige Um¬
schwung in allen Zweigen des öffentlichen und materiellen Lebens in Sachsen,
der sich während Biedermann's erstem akademischen Wirken vollzog, hatte an
dieser praktisch-realen Richtung seiner Forschung hauptsächlichen Antheil. Im
Jahre 1834 war Sachsen dem Zollverein beigetreten, in demselben Jahre
war durch die Linie Leipzig-Dresden das erste größere deutsche Eisenbahnunter¬
nehmer ins Leben getreten. Bald darauf regten sich auf dem zweiten Sächsi¬
schen Landtag die ersten Anfänge einer entschiedenen liberalen Opposition. Dann
wurde Deutschland ergriffen durch das Geschick der tapferen „Göttinger Sieben",
von denen Weber und Albrecht nach Leipzig kamen.

Biedermann's akademisches Wirken war — und ist heute noch — ein
treues Abbild seines literarischen Schaffens. Schon damals zog er die streb¬
sameren seiner Zuhörer zu näherem dialogischen Gedankenaustausch an sich.
In freier Vereinigung wurden die wichtigsten Fragen der Wissenschaft wie
des Lebens gründlich durchgesprochen; Seiten des Lehrers ohne jede Präten¬
sion von Schulweisheit; für den Charakter, die Wahrhaftigkeit und den Le¬
bensernst der Lernenden sehr fruchtbringend. Leute sehr verschiedener Richtung
sind aus diesem freien Kreise hervorgegangen, aber nicht ein Heuchler, nicht
ein Verächter des Höheren, nicht ein flacher Weltmensch. -- Indessen ein
so inniges Verhältniß zwischen Lehrer und Hörern galt damals im Staate
Sachsen schon als ein bischen staatsgefährlich, zumal in der philosophischen
Facultät, in der noch heute alle möglichen Disciplinen untergebracht werden,
„die man nicht decimiren kann". Gerade die philosophische Facultät Leipzigs
erfreut sich seit etwa einem Menschenalter in Dresden einer so eigenthümlichen
Gunst und Behandlung, daß in dieser Zeit der Leipziger Hochschule Namen
wie Mommsen, Jahr, Hartenstein. Treitschke u. s. w. ohne jeden ernstlichen
Versuch der Erhaltung, und lange genug auch ohne jeden Versuch des Er¬
satzes, verloren gegangen sind. Von dieser gemischten Stimmung sollte auch
Biedermann reichliche Beweise erhalten. Solange er von der Freiheit deutscher


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[0374] Stellung zu den politischen und socialen Verhältnissen der Gegenwart". Es bedarf nur der Anführung dieses Titels, um festzustellen, daß der Lehrer der Philosophie in seinem einsamen Studirstübchen in den wenigen Jahren seit dem Abschied von Heidelberg dem großen öffentlichen Leben immer regeres Interesse zugewandt hatte. Schon in der „Fundamental-Philosophie" war als Schlußresultat die Forderung einer Wendung nach dem praktischen Leben und seinen sittlichen und bürgerlichen Strebungen aufgestellt worden. Die¬ selbe Auffassung/ war 1839 in der vielbesprochenen Schrift „Wissenschaft und Universität in ihrer Stellung zu den praktischen Interessen der Gegenwart" hervorgetreten. Nun vollends ausgeprägt verlangte die „Geschichte der deut¬ schen Philosophie" die Nutzbarmachung philosophischer Erkenntniß für das praktische Leben und die verschiedensten Wissenschaften. Der gewaltige Um¬ schwung in allen Zweigen des öffentlichen und materiellen Lebens in Sachsen, der sich während Biedermann's erstem akademischen Wirken vollzog, hatte an dieser praktisch-realen Richtung seiner Forschung hauptsächlichen Antheil. Im Jahre 1834 war Sachsen dem Zollverein beigetreten, in demselben Jahre war durch die Linie Leipzig-Dresden das erste größere deutsche Eisenbahnunter¬ nehmer ins Leben getreten. Bald darauf regten sich auf dem zweiten Sächsi¬ schen Landtag die ersten Anfänge einer entschiedenen liberalen Opposition. Dann wurde Deutschland ergriffen durch das Geschick der tapferen „Göttinger Sieben", von denen Weber und Albrecht nach Leipzig kamen. Biedermann's akademisches Wirken war — und ist heute noch — ein treues Abbild seines literarischen Schaffens. Schon damals zog er die streb¬ sameren seiner Zuhörer zu näherem dialogischen Gedankenaustausch an sich. In freier Vereinigung wurden die wichtigsten Fragen der Wissenschaft wie des Lebens gründlich durchgesprochen; Seiten des Lehrers ohne jede Präten¬ sion von Schulweisheit; für den Charakter, die Wahrhaftigkeit und den Le¬ bensernst der Lernenden sehr fruchtbringend. Leute sehr verschiedener Richtung sind aus diesem freien Kreise hervorgegangen, aber nicht ein Heuchler, nicht ein Verächter des Höheren, nicht ein flacher Weltmensch. -- Indessen ein so inniges Verhältniß zwischen Lehrer und Hörern galt damals im Staate Sachsen schon als ein bischen staatsgefährlich, zumal in der philosophischen Facultät, in der noch heute alle möglichen Disciplinen untergebracht werden, „die man nicht decimiren kann". Gerade die philosophische Facultät Leipzigs erfreut sich seit etwa einem Menschenalter in Dresden einer so eigenthümlichen Gunst und Behandlung, daß in dieser Zeit der Leipziger Hochschule Namen wie Mommsen, Jahr, Hartenstein. Treitschke u. s. w. ohne jeden ernstlichen Versuch der Erhaltung, und lange genug auch ohne jeden Versuch des Er¬ satzes, verloren gegangen sind. Von dieser gemischten Stimmung sollte auch Biedermann reichliche Beweise erhalten. Solange er von der Freiheit deutscher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_129525/374>, abgerufen am 11.01.2025.