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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Formel steht die freisinnige Partei in Italien, wenn sie in dem Uebergang
Frankreichs und nun Spaniens zur Republik einen unabweislichen Schicksals¬
wink erblickt; unter dem Bann derselben Formel steht aber auch die conser-
vative Partei, wenn sie die Bürgschaft der italienischen Zukunft in dem Bünd-
niß mit Frankreich zu suchen fortfährt, ohne daran zu verzweifeln, daß Frank¬
reich sich jemals mit der Einheit Italiens aussöhnen und sogar das Papst¬
thum zu derselben Versöhnung bewegen werde.

Woher kommt nun die Kraft dieser Formel? Liegt sie wirklich in der
Einheit des Blutes, in der Verwandtschaft der Sprachen, des National-
characters und Aehnlichem? Wir glauben dieß nur zum geringen Theil.
Aber die Empfindung einer gemeinsamen Bestimmung, eines gemeinsamen
Schicksals, welche bei den drei großen romanischen Völkern Südeuropas un¬
leugbar vorhanden ist, beruht allerdings auf einer gemeinsamen Eigenschaft
des geistigen Lebens. Sie beruht, kurz gesagt, auf der den romanischen Völ¬
kern gemeinsamen Gestalt des Katholicismus und auf der ihnen ebenso ge¬
meinsamen Gestalt des in ihrem Leben vorhandenen Gegensatzes zum Prote¬
stantismus.

Der Katholicismus hat bei den romanischen Völkern am schärfsten jene
Form des religiös-sittlichen Bewußtseins erzeugt, welche sich mit den Ansprüchen
des Gewissens dadurch abfindet, daß sie sich der Kirche als der sichtbaren Stell¬
vertreterin Gottes äußerlich unterwirft, dafür aber auch von derselben die öst-
liche Reinigung, die Befreiung von allen Scrupeln des Gewissens, die Mtitia,
inkusg, empfängt, wie der theologisch-katholische Ausdruck lautet. Es ist sehr
hart, wie der Protestantismus verlangt, sich nicht eher frei fühlen zu dürfen vor
dem Vorwurf des Gewissens, als bis das Gewissen uns selbst freispricht, weil es
den lauteren Ernst der inneren Umkehr gewahrt. Das ist die Rechtfertigung durch
den Glauben allein, die justitis, mere iwxutata, wie die protestantische Theo¬
logie sich ausdrückt. Dagegen ist es weit bequemer, sich reuevoll vor dem sicht¬
baren Stellvertreter Gottes niederzuwerfen und von ihm losgesprochen zu wer¬
den. Aber die volle unbefangene Beurtheilung der menschlichen Natur nöthigt
zu dem Anerkenntnis daß nicht die Oberflächlichkeit allein die bequemere Weise
verlangt, das Gewissen zu beruhigen. Auch eine gewisse Lebensfrische, ein der
Außenseite des Lebens zugewandter practischer Sinn verlangt einen Weg, mit
dem Gewissen schnell auf das Reine kommen zu können, und es giebt Völker,
denen schlechterdings die Anlage fremd und unerreichbar bleibt, so tief und
anhaltend in das eigene Innere herabzusteigen. Sie würden sittlich Hülflos sein
ohne die wunderthätige Macht der Kirche, und würden in Leichtsinn und
Stumpfheit versinken. Hat doch unserem Goethe der Katholicismus von dieser
Seite seiner wunderspendenden Heiligung und Durchgeistigung des Lebens
impontrt; hat dieser hohe selbstständige Geist sich doch angezogen gefühlt von


Formel steht die freisinnige Partei in Italien, wenn sie in dem Uebergang
Frankreichs und nun Spaniens zur Republik einen unabweislichen Schicksals¬
wink erblickt; unter dem Bann derselben Formel steht aber auch die conser-
vative Partei, wenn sie die Bürgschaft der italienischen Zukunft in dem Bünd-
niß mit Frankreich zu suchen fortfährt, ohne daran zu verzweifeln, daß Frank¬
reich sich jemals mit der Einheit Italiens aussöhnen und sogar das Papst¬
thum zu derselben Versöhnung bewegen werde.

Woher kommt nun die Kraft dieser Formel? Liegt sie wirklich in der
Einheit des Blutes, in der Verwandtschaft der Sprachen, des National-
characters und Aehnlichem? Wir glauben dieß nur zum geringen Theil.
Aber die Empfindung einer gemeinsamen Bestimmung, eines gemeinsamen
Schicksals, welche bei den drei großen romanischen Völkern Südeuropas un¬
leugbar vorhanden ist, beruht allerdings auf einer gemeinsamen Eigenschaft
des geistigen Lebens. Sie beruht, kurz gesagt, auf der den romanischen Völ¬
kern gemeinsamen Gestalt des Katholicismus und auf der ihnen ebenso ge¬
meinsamen Gestalt des in ihrem Leben vorhandenen Gegensatzes zum Prote¬
stantismus.

Der Katholicismus hat bei den romanischen Völkern am schärfsten jene
Form des religiös-sittlichen Bewußtseins erzeugt, welche sich mit den Ansprüchen
des Gewissens dadurch abfindet, daß sie sich der Kirche als der sichtbaren Stell¬
vertreterin Gottes äußerlich unterwirft, dafür aber auch von derselben die öst-
liche Reinigung, die Befreiung von allen Scrupeln des Gewissens, die Mtitia,
inkusg, empfängt, wie der theologisch-katholische Ausdruck lautet. Es ist sehr
hart, wie der Protestantismus verlangt, sich nicht eher frei fühlen zu dürfen vor
dem Vorwurf des Gewissens, als bis das Gewissen uns selbst freispricht, weil es
den lauteren Ernst der inneren Umkehr gewahrt. Das ist die Rechtfertigung durch
den Glauben allein, die justitis, mere iwxutata, wie die protestantische Theo¬
logie sich ausdrückt. Dagegen ist es weit bequemer, sich reuevoll vor dem sicht¬
baren Stellvertreter Gottes niederzuwerfen und von ihm losgesprochen zu wer¬
den. Aber die volle unbefangene Beurtheilung der menschlichen Natur nöthigt
zu dem Anerkenntnis daß nicht die Oberflächlichkeit allein die bequemere Weise
verlangt, das Gewissen zu beruhigen. Auch eine gewisse Lebensfrische, ein der
Außenseite des Lebens zugewandter practischer Sinn verlangt einen Weg, mit
dem Gewissen schnell auf das Reine kommen zu können, und es giebt Völker,
denen schlechterdings die Anlage fremd und unerreichbar bleibt, so tief und
anhaltend in das eigene Innere herabzusteigen. Sie würden sittlich Hülflos sein
ohne die wunderthätige Macht der Kirche, und würden in Leichtsinn und
Stumpfheit versinken. Hat doch unserem Goethe der Katholicismus von dieser
Seite seiner wunderspendenden Heiligung und Durchgeistigung des Lebens
impontrt; hat dieser hohe selbstständige Geist sich doch angezogen gefühlt von


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[0526] Formel steht die freisinnige Partei in Italien, wenn sie in dem Uebergang Frankreichs und nun Spaniens zur Republik einen unabweislichen Schicksals¬ wink erblickt; unter dem Bann derselben Formel steht aber auch die conser- vative Partei, wenn sie die Bürgschaft der italienischen Zukunft in dem Bünd- niß mit Frankreich zu suchen fortfährt, ohne daran zu verzweifeln, daß Frank¬ reich sich jemals mit der Einheit Italiens aussöhnen und sogar das Papst¬ thum zu derselben Versöhnung bewegen werde. Woher kommt nun die Kraft dieser Formel? Liegt sie wirklich in der Einheit des Blutes, in der Verwandtschaft der Sprachen, des National- characters und Aehnlichem? Wir glauben dieß nur zum geringen Theil. Aber die Empfindung einer gemeinsamen Bestimmung, eines gemeinsamen Schicksals, welche bei den drei großen romanischen Völkern Südeuropas un¬ leugbar vorhanden ist, beruht allerdings auf einer gemeinsamen Eigenschaft des geistigen Lebens. Sie beruht, kurz gesagt, auf der den romanischen Völ¬ kern gemeinsamen Gestalt des Katholicismus und auf der ihnen ebenso ge¬ meinsamen Gestalt des in ihrem Leben vorhandenen Gegensatzes zum Prote¬ stantismus. Der Katholicismus hat bei den romanischen Völkern am schärfsten jene Form des religiös-sittlichen Bewußtseins erzeugt, welche sich mit den Ansprüchen des Gewissens dadurch abfindet, daß sie sich der Kirche als der sichtbaren Stell¬ vertreterin Gottes äußerlich unterwirft, dafür aber auch von derselben die öst- liche Reinigung, die Befreiung von allen Scrupeln des Gewissens, die Mtitia, inkusg, empfängt, wie der theologisch-katholische Ausdruck lautet. Es ist sehr hart, wie der Protestantismus verlangt, sich nicht eher frei fühlen zu dürfen vor dem Vorwurf des Gewissens, als bis das Gewissen uns selbst freispricht, weil es den lauteren Ernst der inneren Umkehr gewahrt. Das ist die Rechtfertigung durch den Glauben allein, die justitis, mere iwxutata, wie die protestantische Theo¬ logie sich ausdrückt. Dagegen ist es weit bequemer, sich reuevoll vor dem sicht¬ baren Stellvertreter Gottes niederzuwerfen und von ihm losgesprochen zu wer¬ den. Aber die volle unbefangene Beurtheilung der menschlichen Natur nöthigt zu dem Anerkenntnis daß nicht die Oberflächlichkeit allein die bequemere Weise verlangt, das Gewissen zu beruhigen. Auch eine gewisse Lebensfrische, ein der Außenseite des Lebens zugewandter practischer Sinn verlangt einen Weg, mit dem Gewissen schnell auf das Reine kommen zu können, und es giebt Völker, denen schlechterdings die Anlage fremd und unerreichbar bleibt, so tief und anhaltend in das eigene Innere herabzusteigen. Sie würden sittlich Hülflos sein ohne die wunderthätige Macht der Kirche, und würden in Leichtsinn und Stumpfheit versinken. Hat doch unserem Goethe der Katholicismus von dieser Seite seiner wunderspendenden Heiligung und Durchgeistigung des Lebens impontrt; hat dieser hohe selbstständige Geist sich doch angezogen gefühlt von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/526>, abgerufen am 24.08.2024.