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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Die Annexionsfurcht und der Deutschenhaß datiren bei uns natürlich
nicht erst von heute. Seit 1864 beginnend, dann seit 1866 wachsend, sind
beide seit 1870/71 auf das höchste Maß gestiegen. Aber selbst Thorbecke hat
sich nicht gescheut, sie anzufachen. Im December 1869 schon hat er, fecun-
dirt von unsrer ersten militärischen Autorität, dem General Knoop, eine
wunderliche Rede gegen Preußen als den Störenfried Europa's gehalten und
zu einer Bewaffnung Niederlands bis an die Zähne gerathen. Wir lassen
dahin gestellt, ob er selbst an das Schreckbild glaubte. Der Kriegsminister
eines durchaus unkriegerischen Völkchens, dem der Pfeffer und Kaffee der
höchste Glaubensartikel ist, und das die verfluchte Schuldigkeit des Waffen¬
dienstes für das Vaterland durch Loskauf auf die Schultern seines Proletariats
abwälzt, bedarf natürlich scharfer Reiz- und Zugmittel, um den Beutel seiner lie¬
ben Landsleute für Militairzwecke zu öffnen. Aber gewiß ist, daß jene rhetori¬
sche Saat heute ins Kraut geschossen ist. Die Bedrohung mit Annexion durch
Deutschland ist zum dritten unausrottbaren Glaubensartikel Niederlands ge¬
worden. General Knoop namentlich erklärt sich bereit, für diesen Glauben
sich jederzeit todtschlagen zu lassen. Und Alles fragt bestürzt, entrüstet,
zornesmuthig oder bänglich durcheinander: Is Nederland verdedigbar?

Auf diese -- wenn der Glaubensartikel unserer Annexion einmal unan¬
fechtbar ist -- in der That nicht nur wohl aufzuwerfende, sondern für unsre
Existenz allerwichtigste Frage gibt es nun aber leider grundverschiedene Ant¬
worten. Es würde zu weit führen, wollte ich ihnen eine Blumenlese aus
unsrer gesinnungstüchtigen Presse darüber liefern. Manches dieser strategi¬
schen Gutachten erinnert mich lebhaft an einige vor mir liegende Nummern
des "Schweizer Handelseourier" aus den ersten Kriegsmonaten des Jahres
1870, in denen ein biederer, gleich uns "neutraler" Kriegsweiser des Kantons
Bern, Herr Franz von Erlach seinen Eidgenossen den klugen Plan vorlegt,
männiglich den tückischen Deutschen über die Basler Brück durch den Schwarz¬
wald oder das Elsaß in die unbewehrte Flanke zu fallen, und sie dann, nach¬
dem man unterwegs zur Lawine angewachsen, kaltlächelnd zu vernichten. Da¬
bei fällt einem unwillkührlich der Refrain des alten Studentenliedes ein:
"Denn wir sind ja tausend Mann stark." -- Aber nicht blos die Laien¬
presse, die, bei eigenen Beklemmungen über die Vertheidigungsfähigkeit Neder-
lands, die Erinnerung an de Ruyter und andere Seehelden als Schreckmittel
gegen die deutsche Landarmee ausspielt, ist, von Phrasen abgesehen, sehr un¬
sicher und vielerlei Meinung über die Antwort auf jene Lebensfrage. Viel¬
mehr sind leider auch unsre höchsten militärischen Autoritäten darüber von
einer unerfreulichen Verschiedenheit der Ansichten. Das mag wohl auch theil¬
weise der Grund sein, warum unsre Kammern die Landesvertheidigungs-Vor-
schläge zweier rasch aufeinanderfolgenden Ministerien abgelehnt haben, ov-


Grmzbotm I. 187S. 64

Die Annexionsfurcht und der Deutschenhaß datiren bei uns natürlich
nicht erst von heute. Seit 1864 beginnend, dann seit 1866 wachsend, sind
beide seit 1870/71 auf das höchste Maß gestiegen. Aber selbst Thorbecke hat
sich nicht gescheut, sie anzufachen. Im December 1869 schon hat er, fecun-
dirt von unsrer ersten militärischen Autorität, dem General Knoop, eine
wunderliche Rede gegen Preußen als den Störenfried Europa's gehalten und
zu einer Bewaffnung Niederlands bis an die Zähne gerathen. Wir lassen
dahin gestellt, ob er selbst an das Schreckbild glaubte. Der Kriegsminister
eines durchaus unkriegerischen Völkchens, dem der Pfeffer und Kaffee der
höchste Glaubensartikel ist, und das die verfluchte Schuldigkeit des Waffen¬
dienstes für das Vaterland durch Loskauf auf die Schultern seines Proletariats
abwälzt, bedarf natürlich scharfer Reiz- und Zugmittel, um den Beutel seiner lie¬
ben Landsleute für Militairzwecke zu öffnen. Aber gewiß ist, daß jene rhetori¬
sche Saat heute ins Kraut geschossen ist. Die Bedrohung mit Annexion durch
Deutschland ist zum dritten unausrottbaren Glaubensartikel Niederlands ge¬
worden. General Knoop namentlich erklärt sich bereit, für diesen Glauben
sich jederzeit todtschlagen zu lassen. Und Alles fragt bestürzt, entrüstet,
zornesmuthig oder bänglich durcheinander: Is Nederland verdedigbar?

Auf diese — wenn der Glaubensartikel unserer Annexion einmal unan¬
fechtbar ist — in der That nicht nur wohl aufzuwerfende, sondern für unsre
Existenz allerwichtigste Frage gibt es nun aber leider grundverschiedene Ant¬
worten. Es würde zu weit führen, wollte ich ihnen eine Blumenlese aus
unsrer gesinnungstüchtigen Presse darüber liefern. Manches dieser strategi¬
schen Gutachten erinnert mich lebhaft an einige vor mir liegende Nummern
des „Schweizer Handelseourier" aus den ersten Kriegsmonaten des Jahres
1870, in denen ein biederer, gleich uns „neutraler" Kriegsweiser des Kantons
Bern, Herr Franz von Erlach seinen Eidgenossen den klugen Plan vorlegt,
männiglich den tückischen Deutschen über die Basler Brück durch den Schwarz¬
wald oder das Elsaß in die unbewehrte Flanke zu fallen, und sie dann, nach¬
dem man unterwegs zur Lawine angewachsen, kaltlächelnd zu vernichten. Da¬
bei fällt einem unwillkührlich der Refrain des alten Studentenliedes ein:
„Denn wir sind ja tausend Mann stark." — Aber nicht blos die Laien¬
presse, die, bei eigenen Beklemmungen über die Vertheidigungsfähigkeit Neder-
lands, die Erinnerung an de Ruyter und andere Seehelden als Schreckmittel
gegen die deutsche Landarmee ausspielt, ist, von Phrasen abgesehen, sehr un¬
sicher und vielerlei Meinung über die Antwort auf jene Lebensfrage. Viel¬
mehr sind leider auch unsre höchsten militärischen Autoritäten darüber von
einer unerfreulichen Verschiedenheit der Ansichten. Das mag wohl auch theil¬
weise der Grund sein, warum unsre Kammern die Landesvertheidigungs-Vor-
schläge zweier rasch aufeinanderfolgenden Ministerien abgelehnt haben, ov-


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[0513] Die Annexionsfurcht und der Deutschenhaß datiren bei uns natürlich nicht erst von heute. Seit 1864 beginnend, dann seit 1866 wachsend, sind beide seit 1870/71 auf das höchste Maß gestiegen. Aber selbst Thorbecke hat sich nicht gescheut, sie anzufachen. Im December 1869 schon hat er, fecun- dirt von unsrer ersten militärischen Autorität, dem General Knoop, eine wunderliche Rede gegen Preußen als den Störenfried Europa's gehalten und zu einer Bewaffnung Niederlands bis an die Zähne gerathen. Wir lassen dahin gestellt, ob er selbst an das Schreckbild glaubte. Der Kriegsminister eines durchaus unkriegerischen Völkchens, dem der Pfeffer und Kaffee der höchste Glaubensartikel ist, und das die verfluchte Schuldigkeit des Waffen¬ dienstes für das Vaterland durch Loskauf auf die Schultern seines Proletariats abwälzt, bedarf natürlich scharfer Reiz- und Zugmittel, um den Beutel seiner lie¬ ben Landsleute für Militairzwecke zu öffnen. Aber gewiß ist, daß jene rhetori¬ sche Saat heute ins Kraut geschossen ist. Die Bedrohung mit Annexion durch Deutschland ist zum dritten unausrottbaren Glaubensartikel Niederlands ge¬ worden. General Knoop namentlich erklärt sich bereit, für diesen Glauben sich jederzeit todtschlagen zu lassen. Und Alles fragt bestürzt, entrüstet, zornesmuthig oder bänglich durcheinander: Is Nederland verdedigbar? Auf diese — wenn der Glaubensartikel unserer Annexion einmal unan¬ fechtbar ist — in der That nicht nur wohl aufzuwerfende, sondern für unsre Existenz allerwichtigste Frage gibt es nun aber leider grundverschiedene Ant¬ worten. Es würde zu weit führen, wollte ich ihnen eine Blumenlese aus unsrer gesinnungstüchtigen Presse darüber liefern. Manches dieser strategi¬ schen Gutachten erinnert mich lebhaft an einige vor mir liegende Nummern des „Schweizer Handelseourier" aus den ersten Kriegsmonaten des Jahres 1870, in denen ein biederer, gleich uns „neutraler" Kriegsweiser des Kantons Bern, Herr Franz von Erlach seinen Eidgenossen den klugen Plan vorlegt, männiglich den tückischen Deutschen über die Basler Brück durch den Schwarz¬ wald oder das Elsaß in die unbewehrte Flanke zu fallen, und sie dann, nach¬ dem man unterwegs zur Lawine angewachsen, kaltlächelnd zu vernichten. Da¬ bei fällt einem unwillkührlich der Refrain des alten Studentenliedes ein: „Denn wir sind ja tausend Mann stark." — Aber nicht blos die Laien¬ presse, die, bei eigenen Beklemmungen über die Vertheidigungsfähigkeit Neder- lands, die Erinnerung an de Ruyter und andere Seehelden als Schreckmittel gegen die deutsche Landarmee ausspielt, ist, von Phrasen abgesehen, sehr un¬ sicher und vielerlei Meinung über die Antwort auf jene Lebensfrage. Viel¬ mehr sind leider auch unsre höchsten militärischen Autoritäten darüber von einer unerfreulichen Verschiedenheit der Ansichten. Das mag wohl auch theil¬ weise der Grund sein, warum unsre Kammern die Landesvertheidigungs-Vor- schläge zweier rasch aufeinanderfolgenden Ministerien abgelehnt haben, ov- Grmzbotm I. 187S. 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/513>, abgerufen am 02.10.2024.