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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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dans gar nicht ankommt. Er mag Einzelheiten erfinden, ändern, ausschmücken
oder weglassen, wie es ihm beliebt. Und ziemlich weit kann darin seine Frei¬
heit gehen. Welcher historisch gebildete Mensch wird Anstand daran nehmen,
daß Goethe den Grafen Egmont; den glücklichen Ehemann und Vater von
13 Kindern, zum feurigen Liebhaber des bürgerlichen Klärchen gemacht hat!
Eine derartige Ungenauigkeit und Veränderung des überlieferten Thatbestan¬
des ist dem Dichter gestattet. Und nimmt er aus der Tradition einzelne
Züge in sein Werk hinüber, so hat er doch in der Auswahl derselben freie
Hand: die Beglaubigung der Ueberlieferung zu prüfen, die Zuverlässigkeit der
Berichte abzuwägen, das liegt ganz außer seiner Verpflichtung. Das ganze
Gebiet der Sage und der Anekdote ist ihm offen, eine reiche Fundgrube für
seine Arbeit ist gerade darin zu sehen.

Möglichst weite und unbeschränkte Freiheit gestehen wir also dem Dichter
zu in der Benutzung des geschichtlichen Materiales für seine Zwecke. Aber
eine Forderung erheben wir gegen ihn: den Geist der Zeit, der Personen
der Ereignisse, die er behandelt, muß er wirklich erfaßt haben: in den Grund¬
zügen muß seine historische Dichtung wahr sein.

Andere Zeiten haben darüber andere Auffassungen gehabt. Das Drama
Shakespeare's ist geradezu dramatisirte Chronik. Die klassische Periode der
französischen Literatur dagegen lebt in steter Verletzung jedes historischen
Sinnes. Unsere deutschen Classiker haben mit dem historischen Stoffe auch
ziemlich frei geschaltet. Goethe historischer als Schiller, dessen beliebteste Figu¬
ren Kinder seines subjectiven Geistes sind. Heute scheint uns dagegen eine
gewisse allgemeine historische Anschauung sich so weit der gebildeten Kreise
in unserem Volke bemächtigt zu haben, daß die oben bezeichnete Forderung
historischer Wahrheit in den Grundzügen vielleicht die allgemeine Auffassung
wiedergeben dürfte. Mit dem realistischen Zuge unserer Zeit mag das in Ver¬
bindung und Zusammenhang stehen.

Wir wollen heute, daß der Dichter, der uns in Anlehnung an die wirk¬
liche Geschichte seine Werke zu bringen verspricht, dies Versprechen auch er¬
fülle. Nicht die Richtigkeit des Details, nicht die genaue Zuverlässigkeit des
Aeußeren, wohl aber die Wahrheit des Ganzen ist es, die wir auch von dem
historischen Dichter verlangen. Was uns in Schiller's Don Carlos heute
unbehaglich berührt und den reinen Genuß uns stört, ist nicht die Auffassung
des Helden selbst, der historisch ein sehr armseliger Wicht war: er ist trotzdem
immer als eine mögliche Gestalt des 16. Jahrhunderts denkbar; es ist auch
nicht die Verschiebung des Königs Philipp aus seinen besten Mannesjahren
ins beginnende Alter und dergleichen mehr, nein, es ist vor allem die Ein¬
führung des idealen Schwärmers, des naturrechtlichen Marquis Pos" unter
die Menschen des 16. Jahrhunderts. Und je mehr seine Bedeutung im


dans gar nicht ankommt. Er mag Einzelheiten erfinden, ändern, ausschmücken
oder weglassen, wie es ihm beliebt. Und ziemlich weit kann darin seine Frei¬
heit gehen. Welcher historisch gebildete Mensch wird Anstand daran nehmen,
daß Goethe den Grafen Egmont; den glücklichen Ehemann und Vater von
13 Kindern, zum feurigen Liebhaber des bürgerlichen Klärchen gemacht hat!
Eine derartige Ungenauigkeit und Veränderung des überlieferten Thatbestan¬
des ist dem Dichter gestattet. Und nimmt er aus der Tradition einzelne
Züge in sein Werk hinüber, so hat er doch in der Auswahl derselben freie
Hand: die Beglaubigung der Ueberlieferung zu prüfen, die Zuverlässigkeit der
Berichte abzuwägen, das liegt ganz außer seiner Verpflichtung. Das ganze
Gebiet der Sage und der Anekdote ist ihm offen, eine reiche Fundgrube für
seine Arbeit ist gerade darin zu sehen.

Möglichst weite und unbeschränkte Freiheit gestehen wir also dem Dichter
zu in der Benutzung des geschichtlichen Materiales für seine Zwecke. Aber
eine Forderung erheben wir gegen ihn: den Geist der Zeit, der Personen
der Ereignisse, die er behandelt, muß er wirklich erfaßt haben: in den Grund¬
zügen muß seine historische Dichtung wahr sein.

Andere Zeiten haben darüber andere Auffassungen gehabt. Das Drama
Shakespeare's ist geradezu dramatisirte Chronik. Die klassische Periode der
französischen Literatur dagegen lebt in steter Verletzung jedes historischen
Sinnes. Unsere deutschen Classiker haben mit dem historischen Stoffe auch
ziemlich frei geschaltet. Goethe historischer als Schiller, dessen beliebteste Figu¬
ren Kinder seines subjectiven Geistes sind. Heute scheint uns dagegen eine
gewisse allgemeine historische Anschauung sich so weit der gebildeten Kreise
in unserem Volke bemächtigt zu haben, daß die oben bezeichnete Forderung
historischer Wahrheit in den Grundzügen vielleicht die allgemeine Auffassung
wiedergeben dürfte. Mit dem realistischen Zuge unserer Zeit mag das in Ver¬
bindung und Zusammenhang stehen.

Wir wollen heute, daß der Dichter, der uns in Anlehnung an die wirk¬
liche Geschichte seine Werke zu bringen verspricht, dies Versprechen auch er¬
fülle. Nicht die Richtigkeit des Details, nicht die genaue Zuverlässigkeit des
Aeußeren, wohl aber die Wahrheit des Ganzen ist es, die wir auch von dem
historischen Dichter verlangen. Was uns in Schiller's Don Carlos heute
unbehaglich berührt und den reinen Genuß uns stört, ist nicht die Auffassung
des Helden selbst, der historisch ein sehr armseliger Wicht war: er ist trotzdem
immer als eine mögliche Gestalt des 16. Jahrhunderts denkbar; es ist auch
nicht die Verschiebung des Königs Philipp aus seinen besten Mannesjahren
ins beginnende Alter und dergleichen mehr, nein, es ist vor allem die Ein¬
führung des idealen Schwärmers, des naturrechtlichen Marquis Pos« unter
die Menschen des 16. Jahrhunderts. Und je mehr seine Bedeutung im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/50>, abgerufen am 22.07.2024.