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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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daß die Diener der Kirchen, denen er das innere Leben seiner Bürger anver¬
traut, das geistige Leben der Nation verstehen.

Am 8. und am 10. März kam die wissenschaftliche Staatsprüfung zur
Sprache, welche zur Bekleidung eines geistlichen Amtes erfordert werden soll
und als deren Gegenstand eine allgemeine Bildung auf dem Gebiete der
Philosophie, der Geschichte und der deutschen Literatur bezeichnet ist. Die
näheren Anordnungen über die Prüfungen sind dem Cultusminister vorbehal¬
ten. Darin liegt freilich sehr viel. Denn auf diese näheren Anordnungen
wird ungefähr alles ankommen. In dem Regierungsentwurf war außer den
genannten Prüfungsgegenständen als vierter noch die Bildung in den klassi¬
schen Sprachen bezeichnet. Wohl nicht mit Unrecht hat die Commission diesen
Gegenstand ausgeschlossen. Denn bei keinem Beruf, mit Ausnahme des
philosophischen, wird eine Bildung in den klassischen Sprachen verlangt,
welche über denjenigen Grad dieser Bildung hinausgeht, den bereits die
Abiturientenprüfung darthun muß. Was nun die nach dem Commissions¬
vorschlag übrig bleibenden drei Prüfungsgegenstände anlangt, nämlich die
Kenntniß der Philosophie, der Geschichte und der deutschen Literatur, so
halten wir die Wahl derselben nicht für vollkommen fachgemäß.

Die Erfahrung wird wohl erst das Nöthige lehren. Bei dieser Bestimmung
glauben wir, befand sich Herr Virchow auf dem rechten Wege, was wir gerechtig¬
keitshalber anerkennen. Der genannte Abgeordnete verlangte die Einschaltung
der Naturwissenschaften als Prüfungsgegenstand. Wir unsererseits würden vorge¬
schlagen haben, die Kenntniß der Naturwissenschaften zu fordern und dafür die
Kenntniß der deutschen Literatur als Prüfungsgegenstand ausfallen zu lassen.
Dabei leitet uns nicht etwa ein banausischer Gesichtspunkt. Wir räumen dem
Utilitätsprinzip keinen Finger breit zu viel ein. Aber ohne Kenntniß der Natur¬
wissenschaften giebt es kein Verständniß des heutigen Geisteslebens und seiner
Probleme. Dazu kommt, daß in den Naturwissenschaften ein positiver Lernstoff
enthalten ist, in demzugleich eine mächtig bildende Gewalt liegt. Eine solche Ge¬
walt liegt auf andere Weise in der Literatur, d. h. doch in der Dichtung. Aber
dafür liegt in derselben kein positiver Lernstoff. Man kann die Examinanden nicht
blos nach Büchertiteln und Jahreszahlen fragen. Sowie es sich aber um die
Auffassung der Werke handelt, beginnt ein streitiges subjectives Gebiet. Man
kann unmöglich von einem Examinanden verlangen, diese und keine andere
Ansicht zu haben über den Sinn und Werth von Lessings Nathan oder von
Göthe's Faust. Dann aber ist die Prüfung in der Literatur überflüssig, weil
die Werke der wahrhaften Dichtung in alle empfänglichen Gemüther sich den
Eingang von selbst bahnen. Wo sie das nicht thuen, ist die Prüfung eher
schädlich als nützlich. Die Belesenheit in der Poesie ist zudem an sich durchaus
keine Bürgschaft ernstlicher Geistesbildung. Um den chemischen Prozeß zu


daß die Diener der Kirchen, denen er das innere Leben seiner Bürger anver¬
traut, das geistige Leben der Nation verstehen.

Am 8. und am 10. März kam die wissenschaftliche Staatsprüfung zur
Sprache, welche zur Bekleidung eines geistlichen Amtes erfordert werden soll
und als deren Gegenstand eine allgemeine Bildung auf dem Gebiete der
Philosophie, der Geschichte und der deutschen Literatur bezeichnet ist. Die
näheren Anordnungen über die Prüfungen sind dem Cultusminister vorbehal¬
ten. Darin liegt freilich sehr viel. Denn auf diese näheren Anordnungen
wird ungefähr alles ankommen. In dem Regierungsentwurf war außer den
genannten Prüfungsgegenständen als vierter noch die Bildung in den klassi¬
schen Sprachen bezeichnet. Wohl nicht mit Unrecht hat die Commission diesen
Gegenstand ausgeschlossen. Denn bei keinem Beruf, mit Ausnahme des
philosophischen, wird eine Bildung in den klassischen Sprachen verlangt,
welche über denjenigen Grad dieser Bildung hinausgeht, den bereits die
Abiturientenprüfung darthun muß. Was nun die nach dem Commissions¬
vorschlag übrig bleibenden drei Prüfungsgegenstände anlangt, nämlich die
Kenntniß der Philosophie, der Geschichte und der deutschen Literatur, so
halten wir die Wahl derselben nicht für vollkommen fachgemäß.

Die Erfahrung wird wohl erst das Nöthige lehren. Bei dieser Bestimmung
glauben wir, befand sich Herr Virchow auf dem rechten Wege, was wir gerechtig¬
keitshalber anerkennen. Der genannte Abgeordnete verlangte die Einschaltung
der Naturwissenschaften als Prüfungsgegenstand. Wir unsererseits würden vorge¬
schlagen haben, die Kenntniß der Naturwissenschaften zu fordern und dafür die
Kenntniß der deutschen Literatur als Prüfungsgegenstand ausfallen zu lassen.
Dabei leitet uns nicht etwa ein banausischer Gesichtspunkt. Wir räumen dem
Utilitätsprinzip keinen Finger breit zu viel ein. Aber ohne Kenntniß der Natur¬
wissenschaften giebt es kein Verständniß des heutigen Geisteslebens und seiner
Probleme. Dazu kommt, daß in den Naturwissenschaften ein positiver Lernstoff
enthalten ist, in demzugleich eine mächtig bildende Gewalt liegt. Eine solche Ge¬
walt liegt auf andere Weise in der Literatur, d. h. doch in der Dichtung. Aber
dafür liegt in derselben kein positiver Lernstoff. Man kann die Examinanden nicht
blos nach Büchertiteln und Jahreszahlen fragen. Sowie es sich aber um die
Auffassung der Werke handelt, beginnt ein streitiges subjectives Gebiet. Man
kann unmöglich von einem Examinanden verlangen, diese und keine andere
Ansicht zu haben über den Sinn und Werth von Lessings Nathan oder von
Göthe's Faust. Dann aber ist die Prüfung in der Literatur überflüssig, weil
die Werke der wahrhaften Dichtung in alle empfänglichen Gemüther sich den
Eingang von selbst bahnen. Wo sie das nicht thuen, ist die Prüfung eher
schädlich als nützlich. Die Belesenheit in der Poesie ist zudem an sich durchaus
keine Bürgschaft ernstlicher Geistesbildung. Um den chemischen Prozeß zu


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[0478] daß die Diener der Kirchen, denen er das innere Leben seiner Bürger anver¬ traut, das geistige Leben der Nation verstehen. Am 8. und am 10. März kam die wissenschaftliche Staatsprüfung zur Sprache, welche zur Bekleidung eines geistlichen Amtes erfordert werden soll und als deren Gegenstand eine allgemeine Bildung auf dem Gebiete der Philosophie, der Geschichte und der deutschen Literatur bezeichnet ist. Die näheren Anordnungen über die Prüfungen sind dem Cultusminister vorbehal¬ ten. Darin liegt freilich sehr viel. Denn auf diese näheren Anordnungen wird ungefähr alles ankommen. In dem Regierungsentwurf war außer den genannten Prüfungsgegenständen als vierter noch die Bildung in den klassi¬ schen Sprachen bezeichnet. Wohl nicht mit Unrecht hat die Commission diesen Gegenstand ausgeschlossen. Denn bei keinem Beruf, mit Ausnahme des philosophischen, wird eine Bildung in den klassischen Sprachen verlangt, welche über denjenigen Grad dieser Bildung hinausgeht, den bereits die Abiturientenprüfung darthun muß. Was nun die nach dem Commissions¬ vorschlag übrig bleibenden drei Prüfungsgegenstände anlangt, nämlich die Kenntniß der Philosophie, der Geschichte und der deutschen Literatur, so halten wir die Wahl derselben nicht für vollkommen fachgemäß. Die Erfahrung wird wohl erst das Nöthige lehren. Bei dieser Bestimmung glauben wir, befand sich Herr Virchow auf dem rechten Wege, was wir gerechtig¬ keitshalber anerkennen. Der genannte Abgeordnete verlangte die Einschaltung der Naturwissenschaften als Prüfungsgegenstand. Wir unsererseits würden vorge¬ schlagen haben, die Kenntniß der Naturwissenschaften zu fordern und dafür die Kenntniß der deutschen Literatur als Prüfungsgegenstand ausfallen zu lassen. Dabei leitet uns nicht etwa ein banausischer Gesichtspunkt. Wir räumen dem Utilitätsprinzip keinen Finger breit zu viel ein. Aber ohne Kenntniß der Natur¬ wissenschaften giebt es kein Verständniß des heutigen Geisteslebens und seiner Probleme. Dazu kommt, daß in den Naturwissenschaften ein positiver Lernstoff enthalten ist, in demzugleich eine mächtig bildende Gewalt liegt. Eine solche Ge¬ walt liegt auf andere Weise in der Literatur, d. h. doch in der Dichtung. Aber dafür liegt in derselben kein positiver Lernstoff. Man kann die Examinanden nicht blos nach Büchertiteln und Jahreszahlen fragen. Sowie es sich aber um die Auffassung der Werke handelt, beginnt ein streitiges subjectives Gebiet. Man kann unmöglich von einem Examinanden verlangen, diese und keine andere Ansicht zu haben über den Sinn und Werth von Lessings Nathan oder von Göthe's Faust. Dann aber ist die Prüfung in der Literatur überflüssig, weil die Werke der wahrhaften Dichtung in alle empfänglichen Gemüther sich den Eingang von selbst bahnen. Wo sie das nicht thuen, ist die Prüfung eher schädlich als nützlich. Die Belesenheit in der Poesie ist zudem an sich durchaus keine Bürgschaft ernstlicher Geistesbildung. Um den chemischen Prozeß zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/478>, abgerufen am 24.08.2024.