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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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rasch und gefahrlos dahin, der Anblick des Landes war mächtig schön, vor
Allem die Erscheinung des Puisortok-Gletschers. Sein Eisfeld dehnte sich auf
30 Seemeilen an der Küste aus, und aus demselben ragte die gelbliche Fels¬
masse des Kap - Steen-Bille hervor. -- In den ersten Tagen des Mai reg¬
nete es stark, der Schnee schmolz, das Dach des Hauses glich einem Siebe,
und dieses selbst, das ehedem in einem Thal gestanden, stand jetzt auf einem
Hügel. Es wurde gestützt und durch Taue förmlich eingeschnürt. Aber es
hatte den Hansamännern am längsten als Wohnstätte gedient. Am Morgen
des 7. Mai eröffnete sich der Blick auf freies Wasser nach dem Land zu!
Wetter und Wind waren günstig. Kapitän Hegemann erklärte um halb zwölf
Uhr seinen Offizieren, daß er den Moment gekommen erachte, wo man die
Scholle verlassen und sich in Böten an die Küste retten könne. Bei den
Schicksalsgenossen, die bei dieser wichtigen Entschließung Alle mit zu Rathe
gezogen wurden, fand der Vorschlag ungeteilten Beifall. Gegen 4 Uhr
Nachmittags, nach einem dreimaligen freudigen Hurrah, und einem letzten
dankbaren Blick auf die getreue Scholle, welche unsre Nordpolfahrer 200 Tage
lang aus Regionen des Schreckens und des Todes bis in wirthlichere Breiten
getragen hatte, gingen die Böte unter Segel.

Die Hansamänner hatten auch von da ab nicht geringe Mühsal zu er¬
dulden. Die Böte mußten näher am Land von Scholle zu Scholle mit un¬
endlicher Anstrengung gezogen werden. Schneeblindheit hatte ein Jeder durch¬
zumachen; schärfer und schärfer wurden dazu die Nationen; zuletzt hatten Alle
unter qualvollen Hunger zu leiden, da bei dem. geringen Vorrath nur grade
soviel Nahrung vertheilt werden konnte, um die Leute vor dem Hungertod
zu bewahren. Erst am 4. Juni, also erst einen vollen Monat nach dem Ver¬
lassen der Scholle, gelang die Landung der Böte auf der öden Insel Jlluid-
leck. Auch hier nur sehr spärliche Jagdbeute. Aber es gab zu Pfingsten
doch einmal wieder frisches Geflügel. Am 2, Pfingsttag (6. Juni) brach man
weiter nach Süden auf. Friedrichsthal, die südlichste Herrnhutermissionsstation
bald zu erreichen, war zur Lebensfrage geworden, denn kaum noch für 14
Tage reichte, bei größter Einschränkung der Proviant. Am Abend des 7.
Juni ruhte man zum ersten Mal auf der Felsenküste des grönländischen Fest¬
landes, 5 Meilen nördlich vom Kap Valloe. Zum ersten Mal bot hier
Sauerampfer, Löwenzahn und Fingerkraut einen kleinen frischen Salat. Noch
am Abend wurden 20 Seemeilen zurückgelegt und dicht beim Südende von Grön¬
land vor Anker gegangen. Am 13. Juni endlich, nachdem man früh 4 Uhr
aufgebrochen und bis Nachmittag mit aller Kraft gerudert und gesegelt war,
zeigte sich beim Umfahren um einen niedrigen Vorsprung plötzlich Friedrichs¬
thal, nahe einem breiten Fort zur Brücke von hohen Bergen umrahmt, wäh¬
rend den Hintergrund blau dämmerndes Gebirge abschloß. Noch war es un-


rasch und gefahrlos dahin, der Anblick des Landes war mächtig schön, vor
Allem die Erscheinung des Puisortok-Gletschers. Sein Eisfeld dehnte sich auf
30 Seemeilen an der Küste aus, und aus demselben ragte die gelbliche Fels¬
masse des Kap - Steen-Bille hervor. — In den ersten Tagen des Mai reg¬
nete es stark, der Schnee schmolz, das Dach des Hauses glich einem Siebe,
und dieses selbst, das ehedem in einem Thal gestanden, stand jetzt auf einem
Hügel. Es wurde gestützt und durch Taue förmlich eingeschnürt. Aber es
hatte den Hansamännern am längsten als Wohnstätte gedient. Am Morgen
des 7. Mai eröffnete sich der Blick auf freies Wasser nach dem Land zu!
Wetter und Wind waren günstig. Kapitän Hegemann erklärte um halb zwölf
Uhr seinen Offizieren, daß er den Moment gekommen erachte, wo man die
Scholle verlassen und sich in Böten an die Küste retten könne. Bei den
Schicksalsgenossen, die bei dieser wichtigen Entschließung Alle mit zu Rathe
gezogen wurden, fand der Vorschlag ungeteilten Beifall. Gegen 4 Uhr
Nachmittags, nach einem dreimaligen freudigen Hurrah, und einem letzten
dankbaren Blick auf die getreue Scholle, welche unsre Nordpolfahrer 200 Tage
lang aus Regionen des Schreckens und des Todes bis in wirthlichere Breiten
getragen hatte, gingen die Böte unter Segel.

Die Hansamänner hatten auch von da ab nicht geringe Mühsal zu er¬
dulden. Die Böte mußten näher am Land von Scholle zu Scholle mit un¬
endlicher Anstrengung gezogen werden. Schneeblindheit hatte ein Jeder durch¬
zumachen; schärfer und schärfer wurden dazu die Nationen; zuletzt hatten Alle
unter qualvollen Hunger zu leiden, da bei dem. geringen Vorrath nur grade
soviel Nahrung vertheilt werden konnte, um die Leute vor dem Hungertod
zu bewahren. Erst am 4. Juni, also erst einen vollen Monat nach dem Ver¬
lassen der Scholle, gelang die Landung der Böte auf der öden Insel Jlluid-
leck. Auch hier nur sehr spärliche Jagdbeute. Aber es gab zu Pfingsten
doch einmal wieder frisches Geflügel. Am 2, Pfingsttag (6. Juni) brach man
weiter nach Süden auf. Friedrichsthal, die südlichste Herrnhutermissionsstation
bald zu erreichen, war zur Lebensfrage geworden, denn kaum noch für 14
Tage reichte, bei größter Einschränkung der Proviant. Am Abend des 7.
Juni ruhte man zum ersten Mal auf der Felsenküste des grönländischen Fest¬
landes, 5 Meilen nördlich vom Kap Valloe. Zum ersten Mal bot hier
Sauerampfer, Löwenzahn und Fingerkraut einen kleinen frischen Salat. Noch
am Abend wurden 20 Seemeilen zurückgelegt und dicht beim Südende von Grön¬
land vor Anker gegangen. Am 13. Juni endlich, nachdem man früh 4 Uhr
aufgebrochen und bis Nachmittag mit aller Kraft gerudert und gesegelt war,
zeigte sich beim Umfahren um einen niedrigen Vorsprung plötzlich Friedrichs¬
thal, nahe einem breiten Fort zur Brücke von hohen Bergen umrahmt, wäh¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/471>, abgerufen am 24.08.2024.