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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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eintritt. In den Tagen vom 27. December bis 8. Januar war man 52'/,
Seemeilen Südwest zu West ^ West getrieben.

Die Tage vom 11.--15. Januar sollten neue Schrecknisse bringen. Am
11. schwerer Nordoststurm mit furchtbarem Schneetreiben. Um sechs Uhr
Morgens schon erschallt der Ruf des wachehabenden Hildebrandt: "Alle Mann
klar!" Ein unbeschreibliches Getöse tobt in nächster Nähe. Mit Pelz und
Knappsack dringt Alles hinaus, durch das Schneedach der Vorhalle. Der
Aufruhr der Elemente, der die Armen hier empfing, übertraf alles Erlebte.
Da heißt es plötzlich: "Wasser auf der Scholle nahebei!" Die sie umgeben¬
den Schollen reißen auf. es entsteht hoher Wellenschlag. Wieder bröckelt das
Feld von allen Seiten ab. Zwischen dem Hause und dem Holzvorrath klafft
eine 25 Schritt breite Eisspalte. Das jenseits abgelöste Stück scheint sich haus¬
hoch auf die Schiffbrüchigen niederstürzen zu wollen. Alles scheint verloren.
Das Brennholz treibt in die tobende See hinaus. Nur mit äußerster An¬
strengung gelingt es, bei 10° Kälte und dem starken Sturme, die Böte vor
dem nämlichen Schicksal zu bewahren. Schon sagt man sich Lebewohl, reicht
sich zum Abschied die Hände und erwartet im nächsten Augenblick den Unter¬
gang. So standen und kauerten sie den ganzen Tag bei den zwei nächsten
Böten. Der feine prickelnde Schnee drang durch die Kleider bis auf die
Haut. Wunderbar, daß gerade der Theil der Scholle, auf dem sie standen,
der festeste war. Sie maß nun nur noch 150 Fuß Durchmesser! Gegen
Abend packten sich die Spalten wieder zusammen, und beseitigten die Dünung.
Erleichtert genossen die Armen etwas im Hause und legten sich nieder, nach¬
dem sie scharfe Wache ausgestellt. Auch diese wohlverdiente Ruhe wurde ihnen
durch einen schauerlichen Eisberg verkümmert, auf den sie in der Nacht los¬
trieben, und vor dessen näherer Bekanntschaft nur die schnelle Trift sie be¬
wahrte. Sie waren in 4 Tagen abermals 56 Seemeilen südlich getrieben.

Die schlimmste aller Nächte stand unsern Helden aber noch bevor, die¬
jenige vom 14. auf den 15. Januar. Schon Abends 10 Uhr meldete die
Wache den Bewohnern des Hauses, daß das Eis wieder in starker Bewegung
sei; es wehte heftiger Sturm aus Nordost. In unmittelbarer Nähe des
Hauses barst die Scholle, thürmte das losgebrochene Eis sich auf. Gegen
11 Uhr, unter donnerndem Geräusch drohte eine plötzlich entstandene Spalte
das Haus auseinanderzureißen. Alle vermochten sich ins Freie zu retten. Da
standen sie beim gräßlichsten Unwetter auf dem Eise, obdachlos, den Tag
erwartend, der noch 10 Stunden fern war. Die meisten krochen in das Bot
des Kapitäns unter das Schneesegel, einige durch die zerstoßenen Scheiben ins
Haus. Kälte zehn Grad. Es wollte nicht Tag werden. Ein wüster unruhi¬
ger Halbschlummer hatte sich der Todtmüden bemächtigt, krampfhaft zuck¬
ten ihre Glieder in der engen Lage. Der Koch fand gleichwohl die Euer-


eintritt. In den Tagen vom 27. December bis 8. Januar war man 52'/,
Seemeilen Südwest zu West ^ West getrieben.

Die Tage vom 11.—15. Januar sollten neue Schrecknisse bringen. Am
11. schwerer Nordoststurm mit furchtbarem Schneetreiben. Um sechs Uhr
Morgens schon erschallt der Ruf des wachehabenden Hildebrandt: „Alle Mann
klar!" Ein unbeschreibliches Getöse tobt in nächster Nähe. Mit Pelz und
Knappsack dringt Alles hinaus, durch das Schneedach der Vorhalle. Der
Aufruhr der Elemente, der die Armen hier empfing, übertraf alles Erlebte.
Da heißt es plötzlich: „Wasser auf der Scholle nahebei!" Die sie umgeben¬
den Schollen reißen auf. es entsteht hoher Wellenschlag. Wieder bröckelt das
Feld von allen Seiten ab. Zwischen dem Hause und dem Holzvorrath klafft
eine 25 Schritt breite Eisspalte. Das jenseits abgelöste Stück scheint sich haus¬
hoch auf die Schiffbrüchigen niederstürzen zu wollen. Alles scheint verloren.
Das Brennholz treibt in die tobende See hinaus. Nur mit äußerster An¬
strengung gelingt es, bei 10° Kälte und dem starken Sturme, die Böte vor
dem nämlichen Schicksal zu bewahren. Schon sagt man sich Lebewohl, reicht
sich zum Abschied die Hände und erwartet im nächsten Augenblick den Unter¬
gang. So standen und kauerten sie den ganzen Tag bei den zwei nächsten
Böten. Der feine prickelnde Schnee drang durch die Kleider bis auf die
Haut. Wunderbar, daß gerade der Theil der Scholle, auf dem sie standen,
der festeste war. Sie maß nun nur noch 150 Fuß Durchmesser! Gegen
Abend packten sich die Spalten wieder zusammen, und beseitigten die Dünung.
Erleichtert genossen die Armen etwas im Hause und legten sich nieder, nach¬
dem sie scharfe Wache ausgestellt. Auch diese wohlverdiente Ruhe wurde ihnen
durch einen schauerlichen Eisberg verkümmert, auf den sie in der Nacht los¬
trieben, und vor dessen näherer Bekanntschaft nur die schnelle Trift sie be¬
wahrte. Sie waren in 4 Tagen abermals 56 Seemeilen südlich getrieben.

Die schlimmste aller Nächte stand unsern Helden aber noch bevor, die¬
jenige vom 14. auf den 15. Januar. Schon Abends 10 Uhr meldete die
Wache den Bewohnern des Hauses, daß das Eis wieder in starker Bewegung
sei; es wehte heftiger Sturm aus Nordost. In unmittelbarer Nähe des
Hauses barst die Scholle, thürmte das losgebrochene Eis sich auf. Gegen
11 Uhr, unter donnerndem Geräusch drohte eine plötzlich entstandene Spalte
das Haus auseinanderzureißen. Alle vermochten sich ins Freie zu retten. Da
standen sie beim gräßlichsten Unwetter auf dem Eise, obdachlos, den Tag
erwartend, der noch 10 Stunden fern war. Die meisten krochen in das Bot
des Kapitäns unter das Schneesegel, einige durch die zerstoßenen Scheiben ins
Haus. Kälte zehn Grad. Es wollte nicht Tag werden. Ein wüster unruhi¬
ger Halbschlummer hatte sich der Todtmüden bemächtigt, krampfhaft zuck¬
ten ihre Glieder in der engen Lage. Der Koch fand gleichwohl die Euer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/469>, abgerufen am 24.08.2024.