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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Maultrommeln, Trompeten, Hampelmänner, Knallbonbons :e. wurden red¬
lich verlooft; begierig siel man über die alten Zeitungen her. Dazu gab es
ein Gläschen Portwein, Abends Chocolade und Pfeffernüsse. In derselben
herzensfreudigen und inniggerührten Stimmung wurde das Neue Jahr ange¬
treten. Die gegenseitigen Glückwünsche beim Jahreswechsel kamen jedem der
schwergeprüften Männer aus dem Grunde des Herzens. Der kürzeste Tag
war nun überwunden, und auf die zunehmende Sonne durfte man wohl zu¬
nehmende Hoffnung setzen. Aber dennoch sollte der Januar ihnen bei weitem
die größten Schrecknisse bieten.

Schon am Vormittag des 2. Januar ließ sich ein eigenthümliches Geräusch
hören, wie wenn jemand mit dem Fuß auf dem Boden scharrt; draußen
unterdessen furchtbares Unwetter, Sturm aus Nordnordost und anhaltendes
Schneetreiben. Während der Mittagsruhe plötzlich das seltsame Geräusch von
neuem, nur weit stärker. Es war ein Scharren, Poltern, Knistern, Aechzen
und Knarren, als ob unheimliche Geister unter der Scholle ihr Wesen trieben.
Alle liefen durch den Schneegang nach oben, das Haus lag ja mindestens
einen Fuß tief verschneit. Draußen nichts als das Wüthen des Sturmes.
Sowie man aber das Ohr an den Boden legte, ließ sich ein Geräusch ver¬
nehmen wie das Singen des Eises, wenn es stark geschroben wird; es war,
als ob Wasser unter der Scholle durchriesele. Offenbar stand sie in Gefahr,
zerschellt zu werden, indem sie, über Klippen treibend, auseinanderbersten, oder
an den Kanten abbrechen konnte, vielleicht beides zugleich. Die Pelze wur¬
den gepackt, und jeder füllte seinen Knappsack mit Mundvorrath. Barse die
Scholle, so war man rettungslos verloren. Die Böte waren bei dem ent¬
setzlichen Schneetreiben nicht von der Stelle zu bringen. Um 9 Uhr früh end¬
lich erschien die sehnsüchtig erwartete Dämmerung. Eine Stunde später, als
der Sturm etwas nachließ, gingen Einige hinaus in der Richtung, wo einst
die Hansa untergegangen war. Sie fanden auf 500 Schritt einen neuer¬
standenen Eiswall und erkannten zu ihrem Schrecken, daß dieser Wall jetzt
die Grenze der Scholle bildete, während auf allen Seiten große Stücke abge¬
brochen waren. Am Morgen des 4. Januar endlich hatte das Wetter aus¬
getobt, und nun erkannte man genau feine Wirkung. Früher hatte die Scholle
zwei Seemeilen im Durchmesser gehabt, nun höchstens eine. Das Haus lag
nun nach drei Seiten kaum 200 Schritt vom Rande, nach der vierten 1000,
gegen 3000 früher. Man trieb kaum 2 Seemeilen vom Lande. Gleichwohl
war an ein Entkommen auf'^den Böten nicht zu denken, da jenseits der
Scholle zerbrochenes Trümmereis sich zwischen die Küste schob, unter dessen
Schneedecke man die Risse und Schrunden nicht hätte entdecken können. Auch
dießmal hatte man das Schrauben und die schnelle Trift des Eises der Spring-
fluth zu danken, die hier schon 10--15 Stunden nach Neu- und Vollmond


Maultrommeln, Trompeten, Hampelmänner, Knallbonbons :e. wurden red¬
lich verlooft; begierig siel man über die alten Zeitungen her. Dazu gab es
ein Gläschen Portwein, Abends Chocolade und Pfeffernüsse. In derselben
herzensfreudigen und inniggerührten Stimmung wurde das Neue Jahr ange¬
treten. Die gegenseitigen Glückwünsche beim Jahreswechsel kamen jedem der
schwergeprüften Männer aus dem Grunde des Herzens. Der kürzeste Tag
war nun überwunden, und auf die zunehmende Sonne durfte man wohl zu¬
nehmende Hoffnung setzen. Aber dennoch sollte der Januar ihnen bei weitem
die größten Schrecknisse bieten.

Schon am Vormittag des 2. Januar ließ sich ein eigenthümliches Geräusch
hören, wie wenn jemand mit dem Fuß auf dem Boden scharrt; draußen
unterdessen furchtbares Unwetter, Sturm aus Nordnordost und anhaltendes
Schneetreiben. Während der Mittagsruhe plötzlich das seltsame Geräusch von
neuem, nur weit stärker. Es war ein Scharren, Poltern, Knistern, Aechzen
und Knarren, als ob unheimliche Geister unter der Scholle ihr Wesen trieben.
Alle liefen durch den Schneegang nach oben, das Haus lag ja mindestens
einen Fuß tief verschneit. Draußen nichts als das Wüthen des Sturmes.
Sowie man aber das Ohr an den Boden legte, ließ sich ein Geräusch ver¬
nehmen wie das Singen des Eises, wenn es stark geschroben wird; es war,
als ob Wasser unter der Scholle durchriesele. Offenbar stand sie in Gefahr,
zerschellt zu werden, indem sie, über Klippen treibend, auseinanderbersten, oder
an den Kanten abbrechen konnte, vielleicht beides zugleich. Die Pelze wur¬
den gepackt, und jeder füllte seinen Knappsack mit Mundvorrath. Barse die
Scholle, so war man rettungslos verloren. Die Böte waren bei dem ent¬
setzlichen Schneetreiben nicht von der Stelle zu bringen. Um 9 Uhr früh end¬
lich erschien die sehnsüchtig erwartete Dämmerung. Eine Stunde später, als
der Sturm etwas nachließ, gingen Einige hinaus in der Richtung, wo einst
die Hansa untergegangen war. Sie fanden auf 500 Schritt einen neuer¬
standenen Eiswall und erkannten zu ihrem Schrecken, daß dieser Wall jetzt
die Grenze der Scholle bildete, während auf allen Seiten große Stücke abge¬
brochen waren. Am Morgen des 4. Januar endlich hatte das Wetter aus¬
getobt, und nun erkannte man genau feine Wirkung. Früher hatte die Scholle
zwei Seemeilen im Durchmesser gehabt, nun höchstens eine. Das Haus lag
nun nach drei Seiten kaum 200 Schritt vom Rande, nach der vierten 1000,
gegen 3000 früher. Man trieb kaum 2 Seemeilen vom Lande. Gleichwohl
war an ein Entkommen auf'^den Böten nicht zu denken, da jenseits der
Scholle zerbrochenes Trümmereis sich zwischen die Küste schob, unter dessen
Schneedecke man die Risse und Schrunden nicht hätte entdecken können. Auch
dießmal hatte man das Schrauben und die schnelle Trift des Eises der Spring-
fluth zu danken, die hier schon 10—15 Stunden nach Neu- und Vollmond


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[0468] Maultrommeln, Trompeten, Hampelmänner, Knallbonbons :e. wurden red¬ lich verlooft; begierig siel man über die alten Zeitungen her. Dazu gab es ein Gläschen Portwein, Abends Chocolade und Pfeffernüsse. In derselben herzensfreudigen und inniggerührten Stimmung wurde das Neue Jahr ange¬ treten. Die gegenseitigen Glückwünsche beim Jahreswechsel kamen jedem der schwergeprüften Männer aus dem Grunde des Herzens. Der kürzeste Tag war nun überwunden, und auf die zunehmende Sonne durfte man wohl zu¬ nehmende Hoffnung setzen. Aber dennoch sollte der Januar ihnen bei weitem die größten Schrecknisse bieten. Schon am Vormittag des 2. Januar ließ sich ein eigenthümliches Geräusch hören, wie wenn jemand mit dem Fuß auf dem Boden scharrt; draußen unterdessen furchtbares Unwetter, Sturm aus Nordnordost und anhaltendes Schneetreiben. Während der Mittagsruhe plötzlich das seltsame Geräusch von neuem, nur weit stärker. Es war ein Scharren, Poltern, Knistern, Aechzen und Knarren, als ob unheimliche Geister unter der Scholle ihr Wesen trieben. Alle liefen durch den Schneegang nach oben, das Haus lag ja mindestens einen Fuß tief verschneit. Draußen nichts als das Wüthen des Sturmes. Sowie man aber das Ohr an den Boden legte, ließ sich ein Geräusch ver¬ nehmen wie das Singen des Eises, wenn es stark geschroben wird; es war, als ob Wasser unter der Scholle durchriesele. Offenbar stand sie in Gefahr, zerschellt zu werden, indem sie, über Klippen treibend, auseinanderbersten, oder an den Kanten abbrechen konnte, vielleicht beides zugleich. Die Pelze wur¬ den gepackt, und jeder füllte seinen Knappsack mit Mundvorrath. Barse die Scholle, so war man rettungslos verloren. Die Böte waren bei dem ent¬ setzlichen Schneetreiben nicht von der Stelle zu bringen. Um 9 Uhr früh end¬ lich erschien die sehnsüchtig erwartete Dämmerung. Eine Stunde später, als der Sturm etwas nachließ, gingen Einige hinaus in der Richtung, wo einst die Hansa untergegangen war. Sie fanden auf 500 Schritt einen neuer¬ standenen Eiswall und erkannten zu ihrem Schrecken, daß dieser Wall jetzt die Grenze der Scholle bildete, während auf allen Seiten große Stücke abge¬ brochen waren. Am Morgen des 4. Januar endlich hatte das Wetter aus¬ getobt, und nun erkannte man genau feine Wirkung. Früher hatte die Scholle zwei Seemeilen im Durchmesser gehabt, nun höchstens eine. Das Haus lag nun nach drei Seiten kaum 200 Schritt vom Rande, nach der vierten 1000, gegen 3000 früher. Man trieb kaum 2 Seemeilen vom Lande. Gleichwohl war an ein Entkommen auf'^den Böten nicht zu denken, da jenseits der Scholle zerbrochenes Trümmereis sich zwischen die Küste schob, unter dessen Schneedecke man die Risse und Schrunden nicht hätte entdecken können. Auch dießmal hatte man das Schrauben und die schnelle Trift des Eises der Spring- fluth zu danken, die hier schon 10—15 Stunden nach Neu- und Vollmond

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/468>, abgerufen am 24.08.2024.