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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Wer mit einiger Kenntniß dieser Verhältnisse, dieser stillen Verdienste,
die nur im Fractionszimmer und in dem schätzbaren Material der Commis¬
sionsberichte Ausdruck finden, Lasters Reden beurtheilt, wird erkennen, daß
er nicht aus persönlicher Redelust spricht, sondern meist als Wortführer oder
richtiger als Referent seiner Partei. Wer dann die Macht der Trägheit in
Rechnung zieht, welche im parlamentischen Leben gerade so kräftig herrscht,
wie in der ganzen übrigen Natur, der wird sich in hoher Achtung beugen
vor dieser unermüdlichen Arbeitskraft und Arbeitslust. Immer nur Pflichtge¬
fühl und Gemeinsinn drängen Laster zum Wort im offnen Parlament wie zu
Verbesserungsentwürfen. Und mit welcher Selbstverleugnung übt er diese
Pflicht. Als unsre Hoffnungen, das deutsche Strafgesetzbuch zu Stande zu
bringen, sich eine zeitlang völlig zerschlagen hatten, und Laster noch ruhig und
eifrig fortfeilte an den kleinsten Verbesserungen der einzelnen Paragraphen, da
wurden ihm schmerzliche Zweifel über den Nutzen seiner Arbeit geäußert. Er aber
gab die Antwort: ich arbeite an einem Gesetze immer mit der Voraussetzung,
daß es Leben gewinne, so lange, bis es wirklich gefallen ist. Derselbe rühm¬
liche Pflichteifer bestimmt seine Thätigkeit während der Sitzungen. Selten
wird man Laster während einer Debatte von irgend einem nennenswerthen
Interesse nicht an seinem Platze finden. Die leere Rückseite einer "Druck¬
sache" oder Brochüre vor ihn enthält jedesmal eine wortgetreue Bleistift-Nie¬
derschrift aller wesentlichen Gedanken, welche die Gegner seiner Anschauung
bis zu der eilenden gegenwärtigen Secunde während der Debatte laut wer-
den ließen. Mit phantastischen Arabesken und tief-schattirter Ranken und
Blättern sind diese feindlichen Gedanken umwunden. Dazwischen tauscht er,
rasch um die eigene Are sich drehend, ein lustiges Wort mit dem Hintermanne
-- in den Tagen des Norddeutschen Reichstags wohl auch mit seinem vier¬
jährigen Vis 5, vis auf der Rechten des Mittelgangs, -- den Geh. Rath
Wagener, -- "Laster, wollen Sie sprechen? Fragt ihn ein Führer der
Partei, auf die massenhaften Notizen blickend. "Das weiß ich noch nicht,"
ist die ehrliche Antwort, und wieder notirt der Faber No. 2. ein geflügeltes
Wort aus dem feindlichen Lager. Laster hat Recht. Er weiß meist erst dann,
daß er sprechen wird, wenn er sich zum Wort erhoben hat. Wenn'Goethe seine
Lyrik durchweg als Gelegenheitsdichtung bezeichnen durfte, fo gilt dasselbe
mutatis mutamlis von den meisten parlamentarischen Reden Lasters. Nur
ist seine Gelegenheit nicht die des Poeten oder Troubadours, sondern des
Postens vorm Gewehr, ja meist der äußersten Feldwache im Schußbereich
des Feindes. Und dennoch sind mächtige Reden aus dieser spontanen Waf¬
fenbereitschaft hervorgegangen. Lasters eigenthümliche Stärke scheint alsdann
darin zu liegen, dem bewegten Wortstreit den höchsten, idealsten Gesichts¬
punkt zu geben. Von diesem hohen Standpunkt aus, weiß er dann vortreff-


Wer mit einiger Kenntniß dieser Verhältnisse, dieser stillen Verdienste,
die nur im Fractionszimmer und in dem schätzbaren Material der Commis¬
sionsberichte Ausdruck finden, Lasters Reden beurtheilt, wird erkennen, daß
er nicht aus persönlicher Redelust spricht, sondern meist als Wortführer oder
richtiger als Referent seiner Partei. Wer dann die Macht der Trägheit in
Rechnung zieht, welche im parlamentischen Leben gerade so kräftig herrscht,
wie in der ganzen übrigen Natur, der wird sich in hoher Achtung beugen
vor dieser unermüdlichen Arbeitskraft und Arbeitslust. Immer nur Pflichtge¬
fühl und Gemeinsinn drängen Laster zum Wort im offnen Parlament wie zu
Verbesserungsentwürfen. Und mit welcher Selbstverleugnung übt er diese
Pflicht. Als unsre Hoffnungen, das deutsche Strafgesetzbuch zu Stande zu
bringen, sich eine zeitlang völlig zerschlagen hatten, und Laster noch ruhig und
eifrig fortfeilte an den kleinsten Verbesserungen der einzelnen Paragraphen, da
wurden ihm schmerzliche Zweifel über den Nutzen seiner Arbeit geäußert. Er aber
gab die Antwort: ich arbeite an einem Gesetze immer mit der Voraussetzung,
daß es Leben gewinne, so lange, bis es wirklich gefallen ist. Derselbe rühm¬
liche Pflichteifer bestimmt seine Thätigkeit während der Sitzungen. Selten
wird man Laster während einer Debatte von irgend einem nennenswerthen
Interesse nicht an seinem Platze finden. Die leere Rückseite einer „Druck¬
sache" oder Brochüre vor ihn enthält jedesmal eine wortgetreue Bleistift-Nie¬
derschrift aller wesentlichen Gedanken, welche die Gegner seiner Anschauung
bis zu der eilenden gegenwärtigen Secunde während der Debatte laut wer-
den ließen. Mit phantastischen Arabesken und tief-schattirter Ranken und
Blättern sind diese feindlichen Gedanken umwunden. Dazwischen tauscht er,
rasch um die eigene Are sich drehend, ein lustiges Wort mit dem Hintermanne
— in den Tagen des Norddeutschen Reichstags wohl auch mit seinem vier¬
jährigen Vis 5, vis auf der Rechten des Mittelgangs, — den Geh. Rath
Wagener, — „Laster, wollen Sie sprechen? Fragt ihn ein Führer der
Partei, auf die massenhaften Notizen blickend. „Das weiß ich noch nicht,"
ist die ehrliche Antwort, und wieder notirt der Faber No. 2. ein geflügeltes
Wort aus dem feindlichen Lager. Laster hat Recht. Er weiß meist erst dann,
daß er sprechen wird, wenn er sich zum Wort erhoben hat. Wenn'Goethe seine
Lyrik durchweg als Gelegenheitsdichtung bezeichnen durfte, fo gilt dasselbe
mutatis mutamlis von den meisten parlamentarischen Reden Lasters. Nur
ist seine Gelegenheit nicht die des Poeten oder Troubadours, sondern des
Postens vorm Gewehr, ja meist der äußersten Feldwache im Schußbereich
des Feindes. Und dennoch sind mächtige Reden aus dieser spontanen Waf¬
fenbereitschaft hervorgegangen. Lasters eigenthümliche Stärke scheint alsdann
darin zu liegen, dem bewegten Wortstreit den höchsten, idealsten Gesichts¬
punkt zu geben. Von diesem hohen Standpunkt aus, weiß er dann vortreff-


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[0454] Wer mit einiger Kenntniß dieser Verhältnisse, dieser stillen Verdienste, die nur im Fractionszimmer und in dem schätzbaren Material der Commis¬ sionsberichte Ausdruck finden, Lasters Reden beurtheilt, wird erkennen, daß er nicht aus persönlicher Redelust spricht, sondern meist als Wortführer oder richtiger als Referent seiner Partei. Wer dann die Macht der Trägheit in Rechnung zieht, welche im parlamentischen Leben gerade so kräftig herrscht, wie in der ganzen übrigen Natur, der wird sich in hoher Achtung beugen vor dieser unermüdlichen Arbeitskraft und Arbeitslust. Immer nur Pflichtge¬ fühl und Gemeinsinn drängen Laster zum Wort im offnen Parlament wie zu Verbesserungsentwürfen. Und mit welcher Selbstverleugnung übt er diese Pflicht. Als unsre Hoffnungen, das deutsche Strafgesetzbuch zu Stande zu bringen, sich eine zeitlang völlig zerschlagen hatten, und Laster noch ruhig und eifrig fortfeilte an den kleinsten Verbesserungen der einzelnen Paragraphen, da wurden ihm schmerzliche Zweifel über den Nutzen seiner Arbeit geäußert. Er aber gab die Antwort: ich arbeite an einem Gesetze immer mit der Voraussetzung, daß es Leben gewinne, so lange, bis es wirklich gefallen ist. Derselbe rühm¬ liche Pflichteifer bestimmt seine Thätigkeit während der Sitzungen. Selten wird man Laster während einer Debatte von irgend einem nennenswerthen Interesse nicht an seinem Platze finden. Die leere Rückseite einer „Druck¬ sache" oder Brochüre vor ihn enthält jedesmal eine wortgetreue Bleistift-Nie¬ derschrift aller wesentlichen Gedanken, welche die Gegner seiner Anschauung bis zu der eilenden gegenwärtigen Secunde während der Debatte laut wer- den ließen. Mit phantastischen Arabesken und tief-schattirter Ranken und Blättern sind diese feindlichen Gedanken umwunden. Dazwischen tauscht er, rasch um die eigene Are sich drehend, ein lustiges Wort mit dem Hintermanne — in den Tagen des Norddeutschen Reichstags wohl auch mit seinem vier¬ jährigen Vis 5, vis auf der Rechten des Mittelgangs, — den Geh. Rath Wagener, — „Laster, wollen Sie sprechen? Fragt ihn ein Führer der Partei, auf die massenhaften Notizen blickend. „Das weiß ich noch nicht," ist die ehrliche Antwort, und wieder notirt der Faber No. 2. ein geflügeltes Wort aus dem feindlichen Lager. Laster hat Recht. Er weiß meist erst dann, daß er sprechen wird, wenn er sich zum Wort erhoben hat. Wenn'Goethe seine Lyrik durchweg als Gelegenheitsdichtung bezeichnen durfte, fo gilt dasselbe mutatis mutamlis von den meisten parlamentarischen Reden Lasters. Nur ist seine Gelegenheit nicht die des Poeten oder Troubadours, sondern des Postens vorm Gewehr, ja meist der äußersten Feldwache im Schußbereich des Feindes. Und dennoch sind mächtige Reden aus dieser spontanen Waf¬ fenbereitschaft hervorgegangen. Lasters eigenthümliche Stärke scheint alsdann darin zu liegen, dem bewegten Wortstreit den höchsten, idealsten Gesichts¬ punkt zu geben. Von diesem hohen Standpunkt aus, weiß er dann vortreff-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/454>, abgerufen am 24.08.2024.