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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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lebt, ausgespart werden soll. Was uns betrifft, die wir diese Zeiten schreiben,
wir würden der preußischen Regierung nicht empfehlen, an der Auflösung der
Polnischen Nationalität mit gewaltsamen Mitteln zu arbeiten, und wir wissen
nichts davon, daß dergleichen geschieht. Was in Posen sich vollzieht, ist ein
naturgemäßer Assimilationsprozeß, der bis jetzt nicht voraussehen läßt, daß er
das Ende der polnischen Nationalität auf dem dortigen Boden herbeiführen
Wird. Diese Anklage der Börsenzeitung ist also ebenso seltsam als unbe¬
gründet.-- "Die definitive Abreißung von Dänemark" Die Abtretung Schles¬
wigs erfolgte ja wol bereits durch den wiener Frieden im Sommer 1864.
Wenn die Dänen in Folge der deutschen Machtentfaltung den Gedanken der
Wiedererwerbung des durch von ihnen begangenes Unrecht Verlornen Landes
aufgegeben haben, so ist uns das in Deutschland sehr erwünscht. Aber wir
sehen nicht ein, welchen Schaden Europa davon hat, wenn muthwillige Ver¬
letzung der Verträge ihre Strafe findet. Wir denken, Europa war des
ewigen deutsch-dänischen Streites müde. Denselben auf Kosten Deutsch¬
lands zu schlichten, nachdem Dänemark die Verträge ununterbrochen ver¬
letzt, hätte niemals zur Ruhe Europas gedient. Deutschland hat den
Schlüssel zu seinen Nordgestaden an sich genommen, aber es bedroht Nie¬
mand durch diese Position und ist dazu gar nicht in der Lage. -- "Die Be¬
drohung der Zukunft Belgiens und Hollands." Wenn die Bürsenzeitung ge¬
schrieben hätte: die Sicherstellung der Zukunft Belgiens und Hollands, so
hätte sie wahr gesprochen. Erst durch den Sieg über Frankreich, den Deutsch¬
land erfochten, sind Belgien und Holland ihres Lebens sicher. Wem glaubt
die Börsenzeitung einreden zu können, daß Deutschland durch die Preisge¬
bung Belgiens den Krieg nicht bis zum letzten Augenblick hätte vermeiden
können? Wir denken, hierüber liegen die Zeugnisse vor, nicht bloß in dem
bekannten Vertragsentwurf Bencdettis, sondern auch in den geheimen Papieren
der Tuilerien, welche die Regierung vom 4. September veröffentlicht hat. Soll
etwa Deutschland der Erbe Frankreichs in Bezug auf dessen gegen Belgien
gehegte Eroberungsgelüste geworden sein? Wir haben eine heilige Scheu vor
jeder fremden Nationalität in unserem Staatswesen. Wir ließen die paar
tausend Dänen und Polen sehr gern frei, wenn wir damit nicht zugleich einen
Theil unsrer Landsleute der Fremdherrschaft preisgeben müßten. Wer in
ganz Europa glaubt es der Börsenzeitung, daß Deutschland nach Belgien
trachtet? In Frankreich wird ein solcher Glaube wohl zuweilen erheuchelt,
aber nirgend aus Ueberzeugung angenommen. Man mag ihn nicht einmal zur
Schau tragen, so deutlich fühlt man die UnWahrscheinlichkeit. Und nun gar
Holland! Woher stammt doch gleich die Rede, daß Deutschland Absichten auf
Holland hege? So viel wir uns erinnern, erschien sie zuerst im gesetzgebenden
Körper des französischen Kaiserreichs, entweder im Munde des Herrn Thiers


lebt, ausgespart werden soll. Was uns betrifft, die wir diese Zeiten schreiben,
wir würden der preußischen Regierung nicht empfehlen, an der Auflösung der
Polnischen Nationalität mit gewaltsamen Mitteln zu arbeiten, und wir wissen
nichts davon, daß dergleichen geschieht. Was in Posen sich vollzieht, ist ein
naturgemäßer Assimilationsprozeß, der bis jetzt nicht voraussehen läßt, daß er
das Ende der polnischen Nationalität auf dem dortigen Boden herbeiführen
Wird. Diese Anklage der Börsenzeitung ist also ebenso seltsam als unbe¬
gründet.— „Die definitive Abreißung von Dänemark" Die Abtretung Schles¬
wigs erfolgte ja wol bereits durch den wiener Frieden im Sommer 1864.
Wenn die Dänen in Folge der deutschen Machtentfaltung den Gedanken der
Wiedererwerbung des durch von ihnen begangenes Unrecht Verlornen Landes
aufgegeben haben, so ist uns das in Deutschland sehr erwünscht. Aber wir
sehen nicht ein, welchen Schaden Europa davon hat, wenn muthwillige Ver¬
letzung der Verträge ihre Strafe findet. Wir denken, Europa war des
ewigen deutsch-dänischen Streites müde. Denselben auf Kosten Deutsch¬
lands zu schlichten, nachdem Dänemark die Verträge ununterbrochen ver¬
letzt, hätte niemals zur Ruhe Europas gedient. Deutschland hat den
Schlüssel zu seinen Nordgestaden an sich genommen, aber es bedroht Nie¬
mand durch diese Position und ist dazu gar nicht in der Lage. — „Die Be¬
drohung der Zukunft Belgiens und Hollands." Wenn die Bürsenzeitung ge¬
schrieben hätte: die Sicherstellung der Zukunft Belgiens und Hollands, so
hätte sie wahr gesprochen. Erst durch den Sieg über Frankreich, den Deutsch¬
land erfochten, sind Belgien und Holland ihres Lebens sicher. Wem glaubt
die Börsenzeitung einreden zu können, daß Deutschland durch die Preisge¬
bung Belgiens den Krieg nicht bis zum letzten Augenblick hätte vermeiden
können? Wir denken, hierüber liegen die Zeugnisse vor, nicht bloß in dem
bekannten Vertragsentwurf Bencdettis, sondern auch in den geheimen Papieren
der Tuilerien, welche die Regierung vom 4. September veröffentlicht hat. Soll
etwa Deutschland der Erbe Frankreichs in Bezug auf dessen gegen Belgien
gehegte Eroberungsgelüste geworden sein? Wir haben eine heilige Scheu vor
jeder fremden Nationalität in unserem Staatswesen. Wir ließen die paar
tausend Dänen und Polen sehr gern frei, wenn wir damit nicht zugleich einen
Theil unsrer Landsleute der Fremdherrschaft preisgeben müßten. Wer in
ganz Europa glaubt es der Börsenzeitung, daß Deutschland nach Belgien
trachtet? In Frankreich wird ein solcher Glaube wohl zuweilen erheuchelt,
aber nirgend aus Ueberzeugung angenommen. Man mag ihn nicht einmal zur
Schau tragen, so deutlich fühlt man die UnWahrscheinlichkeit. Und nun gar
Holland! Woher stammt doch gleich die Rede, daß Deutschland Absichten auf
Holland hege? So viel wir uns erinnern, erschien sie zuerst im gesetzgebenden
Körper des französischen Kaiserreichs, entweder im Munde des Herrn Thiers


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/445>, abgerufen am 22.07.2024.