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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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ramiden des Straßburger Münsterthurms ist vielleicht noch kühner, als die
der Antwerpener Kathedrale; der Thurm der letzteren aber zeigt eine reichere
Gliederung. Der Straßburger Thurm ist über die Plattform hinaus in
einer einzigen mächtigen Etage aufgebaut, auf der der Helm ruht. Bei dem
Antwerpener Thurm (der noch zwei Meter höher als jener sein soll) sind
mehrere Etagen mächtiger Wandflächen in durchbrochener Arbeit aufge¬
führt; diese Etagen verjüngen sich zu immer schlankeren Bauten, bis die
Helmspitze den Bau krönt. An der Außenseite der von Fenstern durchbrochenen
Wandflächen aber ragen freistehende Strebepfeiler auf, welche dem
Ganzen den Stempel wunderbarer Leichtigkeit ausprägen und deren
schlanke Formen uns die Minarets der maurischen Schlösser zu vergegenwär¬
tigen scheinen. Wir traten durch das schöne, reich gekehlte Eingangsportal
an der Place Berte mit schwerem Bedauern ein; denn die zu beiden Seiten
an die Mauern des Doms angebauten Häuser (eine schauerliche Unsitte der
Kirchenpatrone!) verkümmern den Genuß der mächtigen Verhältnisse des Lang¬
hauses der Kirche. Der Blick in das Innere dieses sich enschiffi gen
Langhauses ist von wunderbar ergreifender Wirkung. Welche Perspective
durch die schlanken Strebepfeiler, welche Harmonie in den mächtigen Verhält¬
nissen der Decken mit ihren Bogen und Gewölben, welche Beleuchtung durch
die hohen Fenster mit dem Schmuck farbenprächtiger Glasmalereien! Und
nun die herrlichen Altarbilder mit der Fülle der Gestalten, der dramatischen
Lebendigkeit, welche den Beschauer für den Moment fortreißt, mit zu han¬
deln, zu leiden, zu kämpfen mit jenen erlauchten Vertretern der religiösen
Idee vergangener Zeiten: -- in Wahrheit, es läßt sich begreifen, daß die
katholische Kirche mit diesen Gewalten allein schon die naiven Ge¬
müther des Volks unauflöslich an sich kettet, daß sie mit diesen Mitteln
auf den Thron der alleinseligmachenden Mutter steigen konnte -- Mittel,
deren Zahl und Bedeutung sie freilich im Laufe der Zeiten mit raffinirter
Virtuosität zu steigern gewußt hat. Drüben im Halbdunkel des südlichen
Kreuzschiffes traten uns die grandiosen Gestalten der "Kreuzabnahme"
(äeseente 6s croix) von Rubens entgegen. Wie in fast allen seinen Dar¬
stellungen aus der Leidensgeschichte Christi hat der Meister einen hochdrama¬
tischen Moment erfaßt. Zwar ist der Ausdruck in dem Antlitz des Gekreu¬
zigten ein tief schmerzlicher, aber die Gestalt ist nicht wie bei van Dyck leblos,
im Tode geknickt und gebrochen; diese Glieder athmen noch in der Kraft des
eben entflohenen Lebens. Und welche Harmonie in den Linien des Körpers,
in der Gruppirung der Jünger, die ihn vom Kreuze abnehmen, welche Innig¬
keit und Liebesfülle in den Gesichtern der Frauen Maria und Magdalena,
welche sorgsam die fallenden Glieder unterstützen; ein Gemälde von tiefer
Conception und glänzender Ausführung, das noch von Rubens' italienischen


Grenzboten I, 1873. S4

ramiden des Straßburger Münsterthurms ist vielleicht noch kühner, als die
der Antwerpener Kathedrale; der Thurm der letzteren aber zeigt eine reichere
Gliederung. Der Straßburger Thurm ist über die Plattform hinaus in
einer einzigen mächtigen Etage aufgebaut, auf der der Helm ruht. Bei dem
Antwerpener Thurm (der noch zwei Meter höher als jener sein soll) sind
mehrere Etagen mächtiger Wandflächen in durchbrochener Arbeit aufge¬
führt; diese Etagen verjüngen sich zu immer schlankeren Bauten, bis die
Helmspitze den Bau krönt. An der Außenseite der von Fenstern durchbrochenen
Wandflächen aber ragen freistehende Strebepfeiler auf, welche dem
Ganzen den Stempel wunderbarer Leichtigkeit ausprägen und deren
schlanke Formen uns die Minarets der maurischen Schlösser zu vergegenwär¬
tigen scheinen. Wir traten durch das schöne, reich gekehlte Eingangsportal
an der Place Berte mit schwerem Bedauern ein; denn die zu beiden Seiten
an die Mauern des Doms angebauten Häuser (eine schauerliche Unsitte der
Kirchenpatrone!) verkümmern den Genuß der mächtigen Verhältnisse des Lang¬
hauses der Kirche. Der Blick in das Innere dieses sich enschiffi gen
Langhauses ist von wunderbar ergreifender Wirkung. Welche Perspective
durch die schlanken Strebepfeiler, welche Harmonie in den mächtigen Verhält¬
nissen der Decken mit ihren Bogen und Gewölben, welche Beleuchtung durch
die hohen Fenster mit dem Schmuck farbenprächtiger Glasmalereien! Und
nun die herrlichen Altarbilder mit der Fülle der Gestalten, der dramatischen
Lebendigkeit, welche den Beschauer für den Moment fortreißt, mit zu han¬
deln, zu leiden, zu kämpfen mit jenen erlauchten Vertretern der religiösen
Idee vergangener Zeiten: — in Wahrheit, es läßt sich begreifen, daß die
katholische Kirche mit diesen Gewalten allein schon die naiven Ge¬
müther des Volks unauflöslich an sich kettet, daß sie mit diesen Mitteln
auf den Thron der alleinseligmachenden Mutter steigen konnte — Mittel,
deren Zahl und Bedeutung sie freilich im Laufe der Zeiten mit raffinirter
Virtuosität zu steigern gewußt hat. Drüben im Halbdunkel des südlichen
Kreuzschiffes traten uns die grandiosen Gestalten der „Kreuzabnahme"
(äeseente 6s croix) von Rubens entgegen. Wie in fast allen seinen Dar¬
stellungen aus der Leidensgeschichte Christi hat der Meister einen hochdrama¬
tischen Moment erfaßt. Zwar ist der Ausdruck in dem Antlitz des Gekreu¬
zigten ein tief schmerzlicher, aber die Gestalt ist nicht wie bei van Dyck leblos,
im Tode geknickt und gebrochen; diese Glieder athmen noch in der Kraft des
eben entflohenen Lebens. Und welche Harmonie in den Linien des Körpers,
in der Gruppirung der Jünger, die ihn vom Kreuze abnehmen, welche Innig¬
keit und Liebesfülle in den Gesichtern der Frauen Maria und Magdalena,
welche sorgsam die fallenden Glieder unterstützen; ein Gemälde von tiefer
Conception und glänzender Ausführung, das noch von Rubens' italienischen


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[0433] ramiden des Straßburger Münsterthurms ist vielleicht noch kühner, als die der Antwerpener Kathedrale; der Thurm der letzteren aber zeigt eine reichere Gliederung. Der Straßburger Thurm ist über die Plattform hinaus in einer einzigen mächtigen Etage aufgebaut, auf der der Helm ruht. Bei dem Antwerpener Thurm (der noch zwei Meter höher als jener sein soll) sind mehrere Etagen mächtiger Wandflächen in durchbrochener Arbeit aufge¬ führt; diese Etagen verjüngen sich zu immer schlankeren Bauten, bis die Helmspitze den Bau krönt. An der Außenseite der von Fenstern durchbrochenen Wandflächen aber ragen freistehende Strebepfeiler auf, welche dem Ganzen den Stempel wunderbarer Leichtigkeit ausprägen und deren schlanke Formen uns die Minarets der maurischen Schlösser zu vergegenwär¬ tigen scheinen. Wir traten durch das schöne, reich gekehlte Eingangsportal an der Place Berte mit schwerem Bedauern ein; denn die zu beiden Seiten an die Mauern des Doms angebauten Häuser (eine schauerliche Unsitte der Kirchenpatrone!) verkümmern den Genuß der mächtigen Verhältnisse des Lang¬ hauses der Kirche. Der Blick in das Innere dieses sich enschiffi gen Langhauses ist von wunderbar ergreifender Wirkung. Welche Perspective durch die schlanken Strebepfeiler, welche Harmonie in den mächtigen Verhält¬ nissen der Decken mit ihren Bogen und Gewölben, welche Beleuchtung durch die hohen Fenster mit dem Schmuck farbenprächtiger Glasmalereien! Und nun die herrlichen Altarbilder mit der Fülle der Gestalten, der dramatischen Lebendigkeit, welche den Beschauer für den Moment fortreißt, mit zu han¬ deln, zu leiden, zu kämpfen mit jenen erlauchten Vertretern der religiösen Idee vergangener Zeiten: — in Wahrheit, es läßt sich begreifen, daß die katholische Kirche mit diesen Gewalten allein schon die naiven Ge¬ müther des Volks unauflöslich an sich kettet, daß sie mit diesen Mitteln auf den Thron der alleinseligmachenden Mutter steigen konnte — Mittel, deren Zahl und Bedeutung sie freilich im Laufe der Zeiten mit raffinirter Virtuosität zu steigern gewußt hat. Drüben im Halbdunkel des südlichen Kreuzschiffes traten uns die grandiosen Gestalten der „Kreuzabnahme" (äeseente 6s croix) von Rubens entgegen. Wie in fast allen seinen Dar¬ stellungen aus der Leidensgeschichte Christi hat der Meister einen hochdrama¬ tischen Moment erfaßt. Zwar ist der Ausdruck in dem Antlitz des Gekreu¬ zigten ein tief schmerzlicher, aber die Gestalt ist nicht wie bei van Dyck leblos, im Tode geknickt und gebrochen; diese Glieder athmen noch in der Kraft des eben entflohenen Lebens. Und welche Harmonie in den Linien des Körpers, in der Gruppirung der Jünger, die ihn vom Kreuze abnehmen, welche Innig¬ keit und Liebesfülle in den Gesichtern der Frauen Maria und Magdalena, welche sorgsam die fallenden Glieder unterstützen; ein Gemälde von tiefer Conception und glänzender Ausführung, das noch von Rubens' italienischen Grenzboten I, 1873. S4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/433>, abgerufen am 25.08.2024.