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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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rege geworden ist, wie jetzt unter preußischem Scepter. Nicht zum Vorwurf,
sondern zur Ehre gereicht diese Erscheinung der deutschen Herrschaft.

Vorbereitet wurde diese Wanderung durch zeitweilige Züge polnischer
Arbeiter zu Bauten in westlichen Provinzen Preußens, welche seit ein bis zwei
Jahrzehnten üblich wurden und noch jetzt neben der vollständigen Auswan¬
derung stattfinden. So hat Verfasser dieses in Berlin öfter Gelegenheit, pol¬
nische Laute von Bauhandlangern zu hören, welche ihre regelmäßigen Zu¬
sammenkünfte in und vor einer Schnapskneipe in der Nähe seiner Wohnung
halten. Bei den meisten großen Erdarbeiten, besonders bei Eisenbahn- und
Festungsbauten, in den Provinzen Brandenburg und Sachsen und darüber
hinaus findet man Polen aus dem Posenschen beschäftigt, die im Winter
oder wenn sie sich eine größere Summe verdient haben, nach der Heimat zu¬
rückkehren. Aber auch zu dauerndem Aufenthalt übt die Groß-Industrie
Berlins und des preußischen Westens ihre Anziehungskraft auf das Gebiet
der mittleren Warthe und der Obra aus. Namentlich sollen viele polnische
Knaben und junge Burschen aus dem südlichen Posen nach berliner Fabriken
gezogen werden, und in westfälischen Bergwerken sind einige hundert Polen
als Bergleute beschäftigt. Die polnische Presse erkennt ganz richtig den Ver¬
lust, den ihre Nationalität durch diese Wanderungen erfährt, und eifert da¬
gegen, aber selbstverständlich vergebens.

Eine eigentliche Germanisirung, also eine Ueberführung von Leuten pol¬
nischer Abstammung zur deutschen Nationalität, hat sich innerhalb der Grenzen
Posens bisher nur in den Städten vollzogen. In ihnen ruht, wie überall in
unsern östlichen Grenzgebteten, die Kraft des deutschen Stammes; das liefert
zugleich den Beweis, daß mit ihnen die höhere Cultur auf das innigste ver¬
schmolzen ist. So kommt es denn, daß in den Städten der Provinz das
deutsche Element bedeutend vorwiegt, während das auf dem Lande mit dem
Polnischen der Fall ist. Letzteres beträgt in den Städten des Reg.-Bez.'s
Bromberg nach Bräuer 30,45, des Reg.-Bez.'s Posen 33,56 Prozent der Be¬
völkerung, dagegen auf dem Lande dort 52,44, hier 68,67 Prozent. Während
es in der ganzen Provinz nicht einen einzigen Kreis giebt, der auf dem Lande
ohne erhebliche polnische Volksbeimengung wäre, befinden sich doch acht Städte
in ihr, in denen keine Polen wohnen, und 28, in denen sie nur einen erheb¬
lichen Nolksbestandtheil, nämlich weniger als 10 Prozent, bilden. Dazu ge¬
hören die drei nach Posen bedeutendsten Städte. Bromberg (28,000 Einw.),
Rawitsch und Lissa. In 43 nehmen sie zwischen 10 und 50 Prozent der Be¬
völkerung ein. Zu diesen gehört auch die Hauptstadt der Provinz mit 33,6
Prozent Polen. Nirgends ist der Fortschritt des Deutschthums so augenfällig
Wie hier. Im Jahre 1848 bildeten die Deutschen mit Einschluß der Juden
noch nicht die Hälfte der Bevölkerung; nachher kämpften sie noch einige Jahre


rege geworden ist, wie jetzt unter preußischem Scepter. Nicht zum Vorwurf,
sondern zur Ehre gereicht diese Erscheinung der deutschen Herrschaft.

Vorbereitet wurde diese Wanderung durch zeitweilige Züge polnischer
Arbeiter zu Bauten in westlichen Provinzen Preußens, welche seit ein bis zwei
Jahrzehnten üblich wurden und noch jetzt neben der vollständigen Auswan¬
derung stattfinden. So hat Verfasser dieses in Berlin öfter Gelegenheit, pol¬
nische Laute von Bauhandlangern zu hören, welche ihre regelmäßigen Zu¬
sammenkünfte in und vor einer Schnapskneipe in der Nähe seiner Wohnung
halten. Bei den meisten großen Erdarbeiten, besonders bei Eisenbahn- und
Festungsbauten, in den Provinzen Brandenburg und Sachsen und darüber
hinaus findet man Polen aus dem Posenschen beschäftigt, die im Winter
oder wenn sie sich eine größere Summe verdient haben, nach der Heimat zu¬
rückkehren. Aber auch zu dauerndem Aufenthalt übt die Groß-Industrie
Berlins und des preußischen Westens ihre Anziehungskraft auf das Gebiet
der mittleren Warthe und der Obra aus. Namentlich sollen viele polnische
Knaben und junge Burschen aus dem südlichen Posen nach berliner Fabriken
gezogen werden, und in westfälischen Bergwerken sind einige hundert Polen
als Bergleute beschäftigt. Die polnische Presse erkennt ganz richtig den Ver¬
lust, den ihre Nationalität durch diese Wanderungen erfährt, und eifert da¬
gegen, aber selbstverständlich vergebens.

Eine eigentliche Germanisirung, also eine Ueberführung von Leuten pol¬
nischer Abstammung zur deutschen Nationalität, hat sich innerhalb der Grenzen
Posens bisher nur in den Städten vollzogen. In ihnen ruht, wie überall in
unsern östlichen Grenzgebteten, die Kraft des deutschen Stammes; das liefert
zugleich den Beweis, daß mit ihnen die höhere Cultur auf das innigste ver¬
schmolzen ist. So kommt es denn, daß in den Städten der Provinz das
deutsche Element bedeutend vorwiegt, während das auf dem Lande mit dem
Polnischen der Fall ist. Letzteres beträgt in den Städten des Reg.-Bez.'s
Bromberg nach Bräuer 30,45, des Reg.-Bez.'s Posen 33,56 Prozent der Be¬
völkerung, dagegen auf dem Lande dort 52,44, hier 68,67 Prozent. Während
es in der ganzen Provinz nicht einen einzigen Kreis giebt, der auf dem Lande
ohne erhebliche polnische Volksbeimengung wäre, befinden sich doch acht Städte
in ihr, in denen keine Polen wohnen, und 28, in denen sie nur einen erheb¬
lichen Nolksbestandtheil, nämlich weniger als 10 Prozent, bilden. Dazu ge¬
hören die drei nach Posen bedeutendsten Städte. Bromberg (28,000 Einw.),
Rawitsch und Lissa. In 43 nehmen sie zwischen 10 und 50 Prozent der Be¬
völkerung ein. Zu diesen gehört auch die Hauptstadt der Provinz mit 33,6
Prozent Polen. Nirgends ist der Fortschritt des Deutschthums so augenfällig
Wie hier. Im Jahre 1848 bildeten die Deutschen mit Einschluß der Juden
noch nicht die Hälfte der Bevölkerung; nachher kämpften sie noch einige Jahre


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[0427] rege geworden ist, wie jetzt unter preußischem Scepter. Nicht zum Vorwurf, sondern zur Ehre gereicht diese Erscheinung der deutschen Herrschaft. Vorbereitet wurde diese Wanderung durch zeitweilige Züge polnischer Arbeiter zu Bauten in westlichen Provinzen Preußens, welche seit ein bis zwei Jahrzehnten üblich wurden und noch jetzt neben der vollständigen Auswan¬ derung stattfinden. So hat Verfasser dieses in Berlin öfter Gelegenheit, pol¬ nische Laute von Bauhandlangern zu hören, welche ihre regelmäßigen Zu¬ sammenkünfte in und vor einer Schnapskneipe in der Nähe seiner Wohnung halten. Bei den meisten großen Erdarbeiten, besonders bei Eisenbahn- und Festungsbauten, in den Provinzen Brandenburg und Sachsen und darüber hinaus findet man Polen aus dem Posenschen beschäftigt, die im Winter oder wenn sie sich eine größere Summe verdient haben, nach der Heimat zu¬ rückkehren. Aber auch zu dauerndem Aufenthalt übt die Groß-Industrie Berlins und des preußischen Westens ihre Anziehungskraft auf das Gebiet der mittleren Warthe und der Obra aus. Namentlich sollen viele polnische Knaben und junge Burschen aus dem südlichen Posen nach berliner Fabriken gezogen werden, und in westfälischen Bergwerken sind einige hundert Polen als Bergleute beschäftigt. Die polnische Presse erkennt ganz richtig den Ver¬ lust, den ihre Nationalität durch diese Wanderungen erfährt, und eifert da¬ gegen, aber selbstverständlich vergebens. Eine eigentliche Germanisirung, also eine Ueberführung von Leuten pol¬ nischer Abstammung zur deutschen Nationalität, hat sich innerhalb der Grenzen Posens bisher nur in den Städten vollzogen. In ihnen ruht, wie überall in unsern östlichen Grenzgebteten, die Kraft des deutschen Stammes; das liefert zugleich den Beweis, daß mit ihnen die höhere Cultur auf das innigste ver¬ schmolzen ist. So kommt es denn, daß in den Städten der Provinz das deutsche Element bedeutend vorwiegt, während das auf dem Lande mit dem Polnischen der Fall ist. Letzteres beträgt in den Städten des Reg.-Bez.'s Bromberg nach Bräuer 30,45, des Reg.-Bez.'s Posen 33,56 Prozent der Be¬ völkerung, dagegen auf dem Lande dort 52,44, hier 68,67 Prozent. Während es in der ganzen Provinz nicht einen einzigen Kreis giebt, der auf dem Lande ohne erhebliche polnische Volksbeimengung wäre, befinden sich doch acht Städte in ihr, in denen keine Polen wohnen, und 28, in denen sie nur einen erheb¬ lichen Nolksbestandtheil, nämlich weniger als 10 Prozent, bilden. Dazu ge¬ hören die drei nach Posen bedeutendsten Städte. Bromberg (28,000 Einw.), Rawitsch und Lissa. In 43 nehmen sie zwischen 10 und 50 Prozent der Be¬ völkerung ein. Zu diesen gehört auch die Hauptstadt der Provinz mit 33,6 Prozent Polen. Nirgends ist der Fortschritt des Deutschthums so augenfällig Wie hier. Im Jahre 1848 bildeten die Deutschen mit Einschluß der Juden noch nicht die Hälfte der Bevölkerung; nachher kämpften sie noch einige Jahre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/427>, abgerufen am 25.08.2024.