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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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dieser Felder erfordert gegenwärtig, wie Jeder leicht einsieht, eine ganze
Menschenkraft, falls es sich darum handelt, auf ihm nicht bloß momentan,
sondern dauernd etwas zu leisten. Aber an den Historiker tritt diese Forde¬
rung gar nicht heran: es genügt, wenn er nur durch selbständige Arbeit im
Stande ist, die Arbeit der Specialforscher zu controliren und damit für seine
Zwecke zu verwerthen. Er muß ein Kenner, aber braucht nicht ein Fachge¬
lehrter zu sein. Was zur Kennerschaft gehört, dürfte gleichfalls ziemlich allge¬
mein bekannt sein, unter andrem z. B. derjenige Grad von linguistischer Ge¬
lehrsamkeit oder Bildung, der nöthig ist, die sprachlichen Denkmäler des betreffen¬
den Volkes, in jedem Falle die eigentlichsten Urkunden seines Geistes, nicht
bloß durch das immer trübe Medium von Uebersetzungen, sondern in seiner
Selbständigkeit zu benutzen -- natürlich mit Heranziehung aller vorhandenen
wissenschaftlichen Hülfsmittel. Wer als Forscher und Darsteller der indischen
Culturgeschichte austreten will, dem kann die Kenntniß des Sanskrit nicht er¬
spart werden, und so überall.

Wir denken nicht daran von diesen, wenn man will etwas hochgespann¬
ter, aber nach unserer Meinung durch das instinctive Verhalten der modernen
Wissenschaft vollkommen approbirten Standpunkt aus Twestens Buch Seite
für Seite zu kritisiren. Es würde dabei, trotz alledem, was wir zu seiner
oder vielmehr des Verfassers Ehre sagten, nicht wohl bestehen. Man erkennt
überall, wie er des eignen sicheren Compasses selbständiger Sachkenntniß ent¬
behrend, bald diesem bald jenem Führer sich anvertraut, so weit und da, wo
ihm dieser der sicherste zu sein scheint; ihn aber dann wieder verläßt, wo er
einen besseren gefunden zu haben glaubt. Wer wirklich Kenner indischer Cul¬
turgeschichte ist, wird sich eines bedenklichen Lächelns nicht erwehren können,
wenn er z. B. das "Gesetzbuch des Manu" als eine der ursprünglichsten und
lautersten Quellen für indische Staats- und Rechtszustände mit gewaltigem
Respecte benutzt sieht, wenn die indischen Volkssprachen älterer und neuerer
Zeit, wie Pali, Prakrit, Bengali ?c. als, wie auch immer entstellte, "Töchter¬
sprachen" des Sanskrit erscheinen, wenn der Gegensatz der modernen Secten
der Volks - oder richtiger Pöbelreligion zwischen Wischnu und Siwa als ein
zwar nicht uralter, aber doch sehr alter dargestellt wird u. s. w. Was
hier für die indische, gilt ganz ebenso für die ägyptische, babylonische und
israelitische Welt. --

Liegt demnach die eigentliche Bedeutung des Buches keineswegs in der
Erweiterung unseres wissenschaftlichen Horizontes, so legen wir desto größern
Nachdruck auf jenen Einblick in das Seelenleben unsrer eignen Gegenwart,
den wir schon oben als seinen werthvollsten Bestandtheil bezeichneten. Die
Einleitung im Umfange von 159 Seiten zeigt uns die Umrisse der gesammten
Weltanschauung des Verfassers in möglichster Durchsichtigkeit und Schärfe und


dieser Felder erfordert gegenwärtig, wie Jeder leicht einsieht, eine ganze
Menschenkraft, falls es sich darum handelt, auf ihm nicht bloß momentan,
sondern dauernd etwas zu leisten. Aber an den Historiker tritt diese Forde¬
rung gar nicht heran: es genügt, wenn er nur durch selbständige Arbeit im
Stande ist, die Arbeit der Specialforscher zu controliren und damit für seine
Zwecke zu verwerthen. Er muß ein Kenner, aber braucht nicht ein Fachge¬
lehrter zu sein. Was zur Kennerschaft gehört, dürfte gleichfalls ziemlich allge¬
mein bekannt sein, unter andrem z. B. derjenige Grad von linguistischer Ge¬
lehrsamkeit oder Bildung, der nöthig ist, die sprachlichen Denkmäler des betreffen¬
den Volkes, in jedem Falle die eigentlichsten Urkunden seines Geistes, nicht
bloß durch das immer trübe Medium von Uebersetzungen, sondern in seiner
Selbständigkeit zu benutzen — natürlich mit Heranziehung aller vorhandenen
wissenschaftlichen Hülfsmittel. Wer als Forscher und Darsteller der indischen
Culturgeschichte austreten will, dem kann die Kenntniß des Sanskrit nicht er¬
spart werden, und so überall.

Wir denken nicht daran von diesen, wenn man will etwas hochgespann¬
ter, aber nach unserer Meinung durch das instinctive Verhalten der modernen
Wissenschaft vollkommen approbirten Standpunkt aus Twestens Buch Seite
für Seite zu kritisiren. Es würde dabei, trotz alledem, was wir zu seiner
oder vielmehr des Verfassers Ehre sagten, nicht wohl bestehen. Man erkennt
überall, wie er des eignen sicheren Compasses selbständiger Sachkenntniß ent¬
behrend, bald diesem bald jenem Führer sich anvertraut, so weit und da, wo
ihm dieser der sicherste zu sein scheint; ihn aber dann wieder verläßt, wo er
einen besseren gefunden zu haben glaubt. Wer wirklich Kenner indischer Cul¬
turgeschichte ist, wird sich eines bedenklichen Lächelns nicht erwehren können,
wenn er z. B. das „Gesetzbuch des Manu" als eine der ursprünglichsten und
lautersten Quellen für indische Staats- und Rechtszustände mit gewaltigem
Respecte benutzt sieht, wenn die indischen Volkssprachen älterer und neuerer
Zeit, wie Pali, Prakrit, Bengali ?c. als, wie auch immer entstellte, „Töchter¬
sprachen" des Sanskrit erscheinen, wenn der Gegensatz der modernen Secten
der Volks - oder richtiger Pöbelreligion zwischen Wischnu und Siwa als ein
zwar nicht uralter, aber doch sehr alter dargestellt wird u. s. w. Was
hier für die indische, gilt ganz ebenso für die ägyptische, babylonische und
israelitische Welt. —

Liegt demnach die eigentliche Bedeutung des Buches keineswegs in der
Erweiterung unseres wissenschaftlichen Horizontes, so legen wir desto größern
Nachdruck auf jenen Einblick in das Seelenleben unsrer eignen Gegenwart,
den wir schon oben als seinen werthvollsten Bestandtheil bezeichneten. Die
Einleitung im Umfange von 159 Seiten zeigt uns die Umrisse der gesammten
Weltanschauung des Verfassers in möglichster Durchsichtigkeit und Schärfe und


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[0416] dieser Felder erfordert gegenwärtig, wie Jeder leicht einsieht, eine ganze Menschenkraft, falls es sich darum handelt, auf ihm nicht bloß momentan, sondern dauernd etwas zu leisten. Aber an den Historiker tritt diese Forde¬ rung gar nicht heran: es genügt, wenn er nur durch selbständige Arbeit im Stande ist, die Arbeit der Specialforscher zu controliren und damit für seine Zwecke zu verwerthen. Er muß ein Kenner, aber braucht nicht ein Fachge¬ lehrter zu sein. Was zur Kennerschaft gehört, dürfte gleichfalls ziemlich allge¬ mein bekannt sein, unter andrem z. B. derjenige Grad von linguistischer Ge¬ lehrsamkeit oder Bildung, der nöthig ist, die sprachlichen Denkmäler des betreffen¬ den Volkes, in jedem Falle die eigentlichsten Urkunden seines Geistes, nicht bloß durch das immer trübe Medium von Uebersetzungen, sondern in seiner Selbständigkeit zu benutzen — natürlich mit Heranziehung aller vorhandenen wissenschaftlichen Hülfsmittel. Wer als Forscher und Darsteller der indischen Culturgeschichte austreten will, dem kann die Kenntniß des Sanskrit nicht er¬ spart werden, und so überall. Wir denken nicht daran von diesen, wenn man will etwas hochgespann¬ ter, aber nach unserer Meinung durch das instinctive Verhalten der modernen Wissenschaft vollkommen approbirten Standpunkt aus Twestens Buch Seite für Seite zu kritisiren. Es würde dabei, trotz alledem, was wir zu seiner oder vielmehr des Verfassers Ehre sagten, nicht wohl bestehen. Man erkennt überall, wie er des eignen sicheren Compasses selbständiger Sachkenntniß ent¬ behrend, bald diesem bald jenem Führer sich anvertraut, so weit und da, wo ihm dieser der sicherste zu sein scheint; ihn aber dann wieder verläßt, wo er einen besseren gefunden zu haben glaubt. Wer wirklich Kenner indischer Cul¬ turgeschichte ist, wird sich eines bedenklichen Lächelns nicht erwehren können, wenn er z. B. das „Gesetzbuch des Manu" als eine der ursprünglichsten und lautersten Quellen für indische Staats- und Rechtszustände mit gewaltigem Respecte benutzt sieht, wenn die indischen Volkssprachen älterer und neuerer Zeit, wie Pali, Prakrit, Bengali ?c. als, wie auch immer entstellte, „Töchter¬ sprachen" des Sanskrit erscheinen, wenn der Gegensatz der modernen Secten der Volks - oder richtiger Pöbelreligion zwischen Wischnu und Siwa als ein zwar nicht uralter, aber doch sehr alter dargestellt wird u. s. w. Was hier für die indische, gilt ganz ebenso für die ägyptische, babylonische und israelitische Welt. — Liegt demnach die eigentliche Bedeutung des Buches keineswegs in der Erweiterung unseres wissenschaftlichen Horizontes, so legen wir desto größern Nachdruck auf jenen Einblick in das Seelenleben unsrer eignen Gegenwart, den wir schon oben als seinen werthvollsten Bestandtheil bezeichneten. Die Einleitung im Umfange von 159 Seiten zeigt uns die Umrisse der gesammten Weltanschauung des Verfassers in möglichster Durchsichtigkeit und Schärfe und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/416>, abgerufen am 26.08.2024.